# taz.de -- Rechter Bürgermeister in Südfrankreich: Umkämpfte Erinnerung
       
       > Der Bürgermeister von Perpignan, Ex-Lebenspartner von Marine Le Pen,
       > möchte sich des Gedenkens an den Philosophen Walter Benjamin bemächtigen.
       
 (IMG) Bild: Der stramme Rechte Louis Aliot wurde zum Bürgermeister von Perpignan gewählt
       
       Weltweit tobt eine laute, zuweilen etwas lärmig geführte Debatte über
       Geschichte und Erinnerung. Vor Jahren erschien in Frankreich ein
       „Fluchtspiel“ mit dem Namen „Port-Bou 1940“. Nahe diesem
       [1][südfranzösischen Grenzort] nahm sich der Philosoph Walter Benjamin
       (1892–1940) beim Versuch über die Pyrenäen nach Spanien zu gelangen in der
       Nacht vom 26. auf den 27. September das Leben. Er war mittel-, ort- und
       zukunftslos geworden, denn seine verzweifelten Bemühungen um sichere
       Zufluchtsorte waren alle gescheitert.
       
       Im geschmacklosen „Fluchtspiel“ sollten die Mitspieler die letzten
       Stationen Benjamins auf seinem Flucht- und Deportationsweg sowie den
       beschwerlichen Fußweg des Herzkranken über die Berge spielend absolvieren,
       den die Widerstandskämpferin und Pazifistin Lisa Fittko begleitet und in
       einem Buch beschrieben hat („Mein Weg über die Pyrenäen“, erschienen 1985).
       
       Vergangenen Sonntag fand in Frankreich der zweite Urnengang zu den
       Kommunalwahlen statt. In der Stadt Perpignan, keine 50 Kilometer von
       Port-Bou entfernt, wurde Louis Aliot zum Bürgermeister gewählt. Aliot war
       der [2][Lebensgefährte von Marine Le Pen], der Vorsitzenden des
       nationalistisch-rassistischen Rassemblement National (RN) und gilt als
       Urheber der Strategie der „Entteufelung“ („dédiabolisation“), das heißt,
       des Versuchs, die Partei vom Image des Rechtsradikalismus zu befreien.
       
       Aliot wurde Wahlsieger – seiner Strategie folgend – in der einzigen Stadt
       mit über 100.000 Einwohnern nicht als Mitglied des RN, sondern an der
       Spitze einer parteilosen Liste von Rechten.
       
       ## Leerstand und Verwahrlosung
       
       In Perpignan gibt es das Centre d’Art Contemporain Walter Benjamin. Es ist
       längst geschlossen, denn die Stadt, in der ganze Viertel der Verwahrlosung
       anheimgefallen sind, ist arm und hat für Kultur kein Geld mehr. Aliot
       beabsichtigt jedoch, das Zentrum wieder zu öffnen und für Ausstellungen und
       Tagungen aller Art zugänglich zu machen.
       
       Dass sich ausgerechnet ein strammer Rechter wie Aliot des Namens Walter
       Benjamin bemächtigt, um mit diesem seine finstere Kulturpolitik zu
       dekorieren, brachte namhafte französische Intellektuelle, Künstler und
       Wissenschaftler zu Recht in Rage – darunter Étienne Balibar, Jean-Luc
       Nancy, Éric Fassin, Michael Löwy und Benjamin Stora.
       
       In einem zornigen offenen Brief erinnern sie an eine alte historische
       Lektion: „Wenn der Feind triumphiert, werden selbst die Toten nicht in
       Sicherheit sein. Denn dieser Feind hat nicht aufgehört zu triumphieren.“
       
       Sie fordern deshalb, den Rechten um Bürgermeister Aliot den Namen Walter
       Benjamins zu entwinden und „vor den Händen all jener zu schützen, die die
       Geschichte noch einmal mit der Tinte der Unterdrücker von gestern
       umschreiben, während sie heute Ausländer und Migranten mit allen Mitteln
       stigmatisieren“.
       
       ## Moralische Verpflichtung
       
       Die UnterzeichnerInnen des offenen Briefes berufen sich auf ihre politische
       und moralische Verpflichtung, an das zu erinnern und dessen zu gedenken,
       was vor 80 Jahren in Port-Bou geschehen ist und darauf mit größter Klarheit
       und Deutlichkeit zu reagieren.
       
       Sie beziehen sich dabei wörtlich auf den gemeinsamen kämpferischen Slogan
       von Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten, Republikanern und Demokraten
       gegen die faschistischen Truppen von General Franco im Spanischen
       Bürgerkrieg (1936–1939): „¡No pasarán!“ („Sie werden nicht durchkommen!“) –
       jene Parole, die der legendären kommunistischen Kämpferin „La Pasionaria“
       (Dolores Ibárruri Gómez, 1895–1989) zugeschrieben wird.
       
       Sie sprechen dem rechtsradikalen Bürgermeister damit die Legitimität ab,
       sich bei der Wiedereröffnung des Kunstzentrums auf Walter Benjamin zu
       beziehen, eines Opfers brutaler rassistischer und politischer Verfolgung.
       Eine treffliche Intervention im Handgemenge um Erinnerung.
       
       3 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.memorialmuseums.org/staettens/druck/1321
 (DIR) [2] /Archiv-Suche/!5095471&s=Louis+aliot/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rudolf Walther
       
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