# taz.de -- Die steile These: Weihnachtsmärchen im Sommer
       
       > Der CSD ist für viele queere Menschen wie ein oft kritisiertes, aber
       > geliebtes Familienritual. Dieses Jahr fallen fast alle Gay-Pride-Paraden
       > aus. Fuck Covid!
       
 (IMG) Bild: Schöne, fröhliche, queere Welt: beim CSD in Frankfurt 2019
       
       Mag sein, dass die Glocken nie süßer klingen als zur Weihnachtszeit, doch
       genauso ließe sich behaupten: Satter die Beats nie wummern als zur
       CSD-Saison – und das auch noch im Hochsommer. Fällt aber dieses Jahr ins
       Wasser, nicht wegen Regen, sondern wegen Covid-19. Kein CSD? Das klingt
       wie: dieses Jahr kein Weihnachten. Also unmöglich. Wenn nicht Ostern schon
       flachgefallen wäre.
       
       Viele Gay-Pride-Paraden, wenn auch nicht alle, wurden für dieses Jahr
       [1][abgesagt oder verschoben]. Und richtig ist, dass der Gay Pride für
       queere Menschen so etwas wie Weihnachten geworden ist: Ein alljährlich
       wiederkehrendes, womöglich ein wenig erstarrtes Familienritual, das immer
       schon da gewesen zu sein scheint.
       
       Zu diesem Ritual gehört auch die jährliche geäußerte Kritik an der immer
       schlimmer werdenden [2][„Kommerzialisierung“ des CSD,] vergleichbar mit den
       alljährlich anbrandenden bischöflichen Pressemeldungen und
       Synodalbekundungen, die auf den wahren, religiösen Kern des Weihnachtsfests
       pochen und den weltlichen, glitzernden Tand vom Schoko-Nikolaus über den
       Weihnachtsmarkt bis zum Apple-Store-Gutschein unter dem Christbaum geißeln.
       Jedes Jahr.
       
       So verhält es sich auch mit dem CSD: Unpolitisch sei er und kommerziell,
       wobei nicht immer klar ist, ob sich das mit dem Kommerz auf die
       Bratwurstbuden und Caipirinha-Stände oder auf die Trucks von Mercedes-Benz
       und Deutscher Bank bezieht: Die großen Companys dieser Welt haben das
       Prinzip „Diversity“ bereits seit vielen Jahren in ihre Unternehmenskultur
       eingepreist und verstanden, dass sich Vielfalt in ihrer Belegschaft am Ende
       positiv auf das Geschäftsergebnis auswirkt.
       
       ## Giltter auf den Muskeln
       
       Der Kapitalismus hat sich die Graswurzelbewegung einverleibt, und so sieht
       man nun eben auf den größeren Prides Angestellte, die nach dem Büro ins
       Fitnessstudio gehen und das auch mal zeigen wollen – auf dem Truck ihrer
       Company mitfahrend, Sekt trinkend, Give-aways in die Menge schleudernd. Man
       kann das nun schlimm finden, weil die großen Trucks die seriösen
       Aktivist:innen mit ihren liebevoll selbst gemalten Pappschildern verdecken,
       oder aber sich darüber freuen, dass die Zeiten, in denen sich queere
       Menschen im Büro à la „Mad Men“ unsichtbar machen mussten, für immer mehr
       Menschen schlicht und ergreifend vorbei sind.
       
       Wo nun an Weihnachten Lametta ist, ist am Gay Pride der Glitter in allen
       Farben, den sich die Teilnehmenden in die Haare und auf die stramme
       Pectoralis-Muskulatur schmieren. Zum Ritual gehört, dass man diesen Glitter
       garantiert am Abend irgendwo auf seinem Körper wiederfindet wie Ostseesand
       im Schuh, auch wenn man niemandes Pectoralis-Muskulatur angefasst hat. Und
       so sicher wie das Amen in der Kirche ist die Sektflasche in der Hand,
       möglichst schon am späten Vormittag.
       
       Warten aufs Christkind mit Rotkäppchen, zusammen mit dem Freundeskreis, so
       muss es sein. Die folgenden Stunden wird man nun damit verbringen, ständig
       irgendwo zu warten, weil jemand auf die Toilette muss oder Zigaretten
       kaufen oder ein Bier. Und schon hat man sich wieder verloren und der
       SPD-Truck mit der schlechten Musik hat einen zum dritten Mal überholt.
       
       ## Als Pride und Love Parade verschmolzen
       
       Ich kann mich auch noch genau an meinen allerersten CSD erinnern, in den
       Neunzigern in Berlin, als Pride und Love Parade verschmolzen und das
       Hinter-wummernden-Trucks-Herlaufen sich etablierte. Heilig war das für
       mich. So viele? Wir sind wirklich so viele? Das hat mir seinerzeit so eine
       Kraft gegeben, diese gemeinsame Kundgebung hatte auch etwas Tröstliches,
       war geeignet, über manche Verletzung ein wenig hinwegzuhelfen, Ängste zu
       nehmen. Erhebend war das; und etwas Leuchtendes ist geblieben, auch nach so
       vielen Jahren.
       
       Großartig fand ich auch von Beginn an, wie international diese
       Veranstaltungen waren, wie überhaupt die ganze „Szene“, die einem plötzlich
       Anknüpfungspunkte auf der ganzen Welt ermöglichte. Ja, Gay Prides bieten
       Anlass zu Städtereisen, das haben die Tourismusministerien von Israel bis
       Östereich schon lange begriffen. Ja, Gay Prides sind auch so was wie die
       Christkindlmärkte des Sommers. Und auf beiden Events gibt es zu viel
       Alkohol.
       
       Wie soll man auch Familienfeste ohne Alkohol ertragen? Man verbringt Zeit
       mit Menschen, die man sich nicht ausgesucht hat. Ich kann schließlich
       nichts daran ändern, dass hier auch Richard Grenell oder Alice Weidel
       rumlaufen könnten. Da muss man sich schon manchmal Wodka in den Sekt gießen
       und viel Eis drauf. Das ist dann so, als ob man am Heiligen Abend lieber
       die dritte Flasche Rotwein aufmacht, als über die AfD zu diskutieren. Aber
       es gibt auch noch so viele andere Nervensägen in dieser Großfamilie,
       beileibe nicht nur Rechte.
       
       Ja, manchmal hat man die Botschaft fast vergessen, die den Festivitäten
       zugrunde liegt. Die Geschichte mit dem Baby in Palästina und der Aufstand
       in New York. Wie war das jetzt noch mal mit der Empfängnis, und wer hat den
       ersten Stein in der Christopher Street geworfen? Und manchmal reicht es
       einem auch mit den Jingle Bells und den wummernden Trucks und den immer
       gleichen Bildern von Weihnachtsbäumen und schwitzenden Leibern in
       Fetischkostümen. Aber man macht trotzdem mit, weil es sich im Kern bei
       beiden Events um die Liebe dreht. Und um Verfolgungserlebnisse.
       
       Weiß eigentlich jemand was Besseres? Und wo bleibt es?
       
       Wenn das vermaledeite Fest dann ausfällt, guckt man aber doch blöd aus der
       Wäsche. Keine Bratwurst, kein Sekt, und „Lola’s Theme“ von den
       Shapeshifters quäkt nur aus dem Badezimmerradio anstatt aus
       20.000-Watt-Boxen. Fuck Covid!
       
       ## Zeit, sich zu besinnen
       
       Immerhin hat man vielleicht einmal kurz Zeit, sich zu besinnen und an die
       zu denken, denen es noch immer verdammt schlecht ergeht aufgrund ihrer
       sexuellen Orientierung. Nicht nur in den Arabischen Emiraten, Iran oder
       Tschetschenien, sondern sogar nur gut 50 Kilometer entfernt von der
       deutschen Hauptstadt, in Polen. Einem Land, das sich zu nunmehr einem
       Drittel als „LGBT-freie Zone“ erklärt hat und in dem es keine
       Rechtsgleichheit für queere Menschen gibt, also weder eine Form der
       Zivilehe noch den Zugang zur Ehe.
       
       [3][Ein Land mit einem Staatspräsidenten, der in Bezug auf die Identitäten
       LGBTIQ von einer „Ideologie“ spricht], die „schlimmer als der Kommunismus“
       sei. In einem solchen Land – wir sprechen von Europa – muss man sich
       wirklich Sorgen machen, wenn kein Gay Pride stattfinden kann. Auch wenn
       sich die Polen dieses Jahr mit einem digitalen Pride behelfen.
       
       Ich muss an den gut aussehenden, sympathischen jungen Mann denken, der vor
       nicht allzu langer Zeit aus Polen nach Berlin gekommen ist. Er dachte, er
       könnte dem Mist, der in seiner Heimat abgeht, mit Sex und Drogen und dem
       Berliner Nachtleben entkommen. Stattdessen hat er einen kompletten
       Nervenzusammenbruch erlitten. Denn man kann leider nicht einfach in eine
       andere Stadt oder ein anderes Land gehen, und der ganze Wahnsinn ist
       vergessen.
       
       Die Denke, dass man weniger oder gar nichts wert sei. Noch immer werden so
       viele junge Menschen traumatisiert, noch immer nehmen sich viel zu viele
       von ihnen das Leben, weil sie sich nicht vorstellen können, dass sie eine
       Perspektive haben könnten, dass es ihnen tatsächlich gelingen könnte,
       glücklich zu werden oder ein auch nur halbwegs zufriedenes Dasein zu
       fristen. Was ist schon Glück.
       
       Es nützt also alles nichts, man muss das Weihnachtsmärchen immer wieder
       erzählen. Also: Es begab sich in den frühen Morgenstunden des 28. Juni im
       Jahr 1969 in der New Yorker Bar Stonewall...
       
       11 Jul 2020
       
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