# taz.de -- Medien über Genozid in Srebrenica: Das Mindeste
       
       > Die deutsche Berichterstattung zeigt mangelhaftes Wissen über den
       > Völkermord an den Bosniaken. Überall fehlt die Präzision und es wird
       > verharmlost.
       
 (IMG) Bild: Srebrenica-Gedenkstätte in Potočari, Bosnien und Herzegowina, Aufnahme von 2015
       
       Es gibt diese eine Phrase, die in fast jedem Beitrag über den [1][Genozid
       in Srebrenica] irgendwann auftaucht: „8.000 muslimische Männer und Jungen“.
       Nachdem sich vergangenen Samstag der Völkermord in Srebrenica zum 25. Mal
       gejährt hat, war der Satz tagelang immer wieder zu lesen und zu hören – in
       der [2][Süddeutschen], bei [3][Arte], [4][Deutschlandfunk], dpa, einmal
       auch in der taz. Doch jedes Wort hier weist auf gravierende Fehler hin. Und
       auf etwas noch Größeres: ein medial weit verbreitetes Fehlverständnis des
       Genozids gegen Bosniaken.
       
       Fangen wir an mit „8.000“. Die Srebrenica-Gedenkstätte nennt derzeit die
       Zahl von 8.372 Opfern – nicht ohne den Zusatz „über“. Denn von einer
       Dunkelziffer muss ausgegangen werden. Wenn ganze Familien ermordet wurden,
       war nämlich niemand mehr übrig, die Toten registrieren zu lassen. Es wäre
       also richtig, zumindest „mehr als 8.300“ zu schreiben, statt bloß “8000“
       oder sogar „7.000“, wie es manche ohne jegliche Basis in Fakten tun. In
       jedem Fall erstaunt das Bedürfnis im sonst so präzisen Journalismus, hier
       so massiv abzurunden.
       
       8.372 ist dabei die Zahl der bisher identifizierten Opfer, die in mehreren
       Massakern in nur fünf Tagen im Juli 1995 ermordet wurden – also wohlgemerkt
       nicht die Zahl der zwischen 1992 und 1995 insgesamt in Srebrenica, im
       Genozid oder im Krieg getöteten Menschen. Im gesamten Bosnienkrieg starben
       über 100.000 Menschen – in einem Land, das weniger Einwohner hat als
       Berlin.
       
       Kommen wir nun zum Wort „muslimisch“. Bosniaken, also bosnische Muslime,
       durften sich im ehemaligen Jugoslawien nicht als Bosniaken bezeichnen. Erst
       1971 wurden sie zur „konstitutiven Volksgruppe“ – und selbst dann bloß als
       „Muslime im ethnischen Sinn“, was ihre historische und kulturelle Identität
       als Bosniaken leugnete. Das Recht, sich Bosniaken zu nennen, erkämpften sie
       erst mit Bosniens Unabhängigkeit 1992.
       
       ## Katharsis für Europa
       
       Es ist natürlich wichtig und richtig, die Opfer auch als Muslime zu
       benennen. Antimuslimischer Rassismus spielte eine große Rolle im Genozid.
       Der Fehler liegt darin, die Opfer ausschließlich „Muslime“ zu nennen,
       während die Täter im gleichen Text nie nach Religion, sondern nach Ethnie
       („serbisch“) benannt werden. Wenn man die Opfer seit Jahren als Muslime
       identifiziert, dann kann man die Täter auch „Christen“ nennen. Es wäre
       nicht nur korrekt, sondern auch kathartisch für Europa, die Täter endlich
       als weiße, europäische Christen zu markieren, statt einzig mit einer
       Ethnie, die den meisten auf dem Kontinent fern und anders vorkommt.
       
       Kommen wir schließlich zu „Männer und Jungen“. Dieser Teil der oft
       wiederholten Phrase macht ermordete Frauen und Mädchen unsichtbar. [5][Von
       ihnen sind über 570 bisher identifiziert]. Außerdem kann man ermordete
       Neugeborene und Babys nicht unter „Jungen“ oder „Jugendliche“
       zusammenfassen.
       
       Genozid bedeutet nicht „viel töten“. Laut UN-Genozidkonvention ist es,
       vereinfacht, die Ausführung einer von mehreren möglichen Taten, mit der
       Absicht eine Menschengruppe zu vernichten. Massenmord ist dabei eine
       Methode, andere sind Zwangssterilisationen, die erzwungene Überführung von
       Kindern der Gruppe in eine andere und vieles mehr.
       
       Zum Unwissen über Genozide generell kommt Unwissen zum Genozid gegen
       Bosniaken. Biljana Plavšić, die Vizepräsidentin von [6][Radovan Karadžić],
       sah Bosniaken als „genetisch entstelltes Material“ und vertrat einen
       extremen biologistischen Rassismus. In einem Interview mit der serbischen
       Zeitung Svet erklärte sie 1993: „Es war genetisch entstelltes Material, das
       den Islam annahm“ –und sprach davon, dass dieses Gen sich mit jeder
       nachfolgenden Generation stärker konzentriere. „Es ist ausdrucksstark und
       diktiert ihre Art zu denken und sich zu benehmen, die in ihren Genen
       verwurzelt ist. Und im Laufe der Jahrhunderte sind die Gene weiter
       verfallen.“
       
       ## Die Leugner suchen sich Gründe
       
       Systematische Vergewaltigungen wurden gezielt als Genozidmethode genutzt,
       Bosniakinnen psychisch und körperlich zu brechen und zu zwingen, Kinder mit
       „serbischem Blut“ zu gebären. [7][Dass während des Bosnienkrieges 50.000
       Frauen vergewaltigt wurden], war keine Nebenwirkung des Genozids, sondern
       Teil davon.
       
       Leugner sagen oft, Srebrenica sei kein Genozid, da ja „nur“
       oder„überwiegend“ männliche Personen ermordet wurden. Oft fügen sie hinzu,
       dass die Männer bewaffnet gewesen seien und die Gewalt gegen sie bloß
       Notwehr. Auch darum ist „Männer und Jungs“ ohne Kontextualisierung so
       gefährlich.
       
       All diese Fehler stecken in der kurzen Phrase „8.000 muslimische Jungen und
       Männer“. Doch es gibt noch viele mehr. Die Berichterstattung zu Srebrenica
       offenbart schockierende Wissenslücken, mangelndes Kontextverständnis und
       womöglich einfach großes Desinteresse.
       
       Das zeigt auch die immer wieder auftauchende Phrase von den
       Kriegsverbrechen auf „allen Seiten“. Laut Untersuchungen der UN sind über
       90 Prozent aller Kriegsverbrechen im gesamten Bosnienkrieg von der
       serbischen Seite verübt worden, der Rest teilt sich auf mehrere andere
       Parteien auf.
       
       ## Falsches Ausgleichen
       
       Mit „Verbrechen auf allen Seiten“ bemüht sich der Journalist um eine
       scheinbar neutrale, haltungsbefreite Formulierung – macht sich aber der
       Genozidverharmlosung schuldig. Dies gilt nicht nur für die ausdrückliche
       Nutzung der Phrase „alle Seiten“, sondern auch für Framing oder ungenaue
       Beiträge, in denen der Eindruck entsteht, es hätte sich um einen
       ausgeglichenen Krieg gehandelt, bei dem alle eine gleich große
       Verantwortung tragen. Dass dieses falsche Ausgleichen Genozidleugnung ist,
       sollte in Deutschland spätestens bekannt sein, seitdem Neonazis anfingen,
       mit der Bombardierung Dresdens zu „argumentieren“.
       
       Mal abgesehen davon, dass über all das ohnehin nicht oft genug berichtet
       wird, fehlt dann offenbar in den Redaktionen das Wissen, um es richtig zu
       machen. Zur Recherche werden Texte benutzt, deren Fehler man nicht erkennt
       und in Dauerschleife reproduziert. Betroffene erleben meist, dass sie nicht
       als Experten anerkannt werden, sondern als „unobjektiv“ gelten. Kritik wird
       seit Jahren geäußert, sie kommt aber offenbar nicht an. So entsteht ein
       Teufelskreis, in dem oft gelesene, vertraute Fehler nicht hinterfragt
       werden, aber Fakten kontrovers scheinen – und am Ende wird lieber „Lager“
       und „ethnische Säuberung“ geschrieben, statt Konzentrationslager und
       Genozid.
       
       Der Genozid gegen Bosniaken wird von der EU, den USA und zahlreichen
       Parlamenten weltweit anerkannt, ist mehrfach gerichtlich festgestellt
       worden, ist auf Hunderttausenden Seiten dokumentiert und mit dem größten
       DNA-Identifikationsprojekt der Weltgeschichte belegt. Und doch müssen
       Überlebende immer wieder Leugnung und Widerrede ertragen, auch in deutschen
       Medien. Biljana Plavšić, die Bosniaken entstellte Gene zuschrieb, lebt
       heute frei in Serbien, wo sie als Heldin gefeiert wird.
       
       Währenddessen leben Zehntausende vergewaltigte Frauen mit psychischen und
       körperlichen Folgen und trauern um geliebte Menschen, die nicht mehr leben.
       Sensible und korrekte Berichterstattung ist da das Mindeste, was man
       erwarten kann.
       
       17 Jul 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /25-Jahre-nach-dem-Genozid-von-Srebrenica/!5698987
 (DIR) [2] https://www.sueddeutsche.de/politik/srebrenica-voelermord-25-jahre-bilder-1.4964243
 (DIR) [3] https://www.arte.tv/de/afp/neuigkeiten/gedenken-massaker-von-srebrenica-vor-25-jahren
 (DIR) [4] https://www.deutschlandfunkkultur.de/der-tag-mit-gunter-gebauer-25-jahre-massaker-von-srebrenica.2950.de.html?dram%3Aarticle_id=480370
 (DIR) [5] https://www.gfbv.de/de/news/srebrenica-noch-fehlen-die-sterblichen-ueberreste-von-mindestens-1372-knaben-frauen-und-maennern-m/
 (DIR) [6] /Kommentar-Finales-Urteil-gegen-Karadic/!5581388
 (DIR) [7] https://news.un.org/en/story/2011/11/394492
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Melina Borčak
       
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