# taz.de -- Corona-Regeln für Menschen mit Handicap: Schutz oder Diskriminierung?
       
       > Für Menschen mit Behinderungen tun sich die Behörden schwer, das richtige
       > Verhältnis von Schutz und Gleichbehandlung zu finden.
       
 (IMG) Bild: Harte Zeit der Trennung: Eingangstür eines Wohnheims für Behinderte in Koblenz Anfang April
       
       NEUMÜNSTER taz | Marie (Name geändert) hatte beste Laune. Das machte den
       Besuch ihres Vaters Fritz Bremer in der schleswig-holsteinischen Wohngruppe
       für Menschen mit Behinderungen angenehmer, als der erwartet hatte. Denn die
       ersten Treffen zwischen der mehrfachbehinderten Tochter und ihren Eltern
       unter Coronabedingungen fanden in einem sterilen Besuchsraum statt,
       getrennt durch eine Scheibe.
       
       Bremer, der als Sozialpädagoge sein Berufsleben lang mit Menschen mit
       Behinderung zu tun hatte, empfand diese Regeln als „skurril und
       lebensweltfern“. Er wandte sich an Landtagsabgeordnete, bat im Kieler
       Sozialministerium darum, die strengen Regeln zu ändern. Inzwischen gibt es
       einen neuen Erlass: „Seit Mitte Juni dürften wir nun zu zehnt zu Besuch
       kommen“, sagt Bremer. „Das finde ich nun wiederum deutlich zu viel.“
       
       Denn die Bewohner*innen der betreuten WG seien durch ihre körperlichen
       Behinderungen besonders gefährdet, zudem sind bei den meisten die
       kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt, sodass sie selbst kaum
       Vorsichtsmaßnahmen ergreifen können. „Wir treffen uns mit Marie draußen auf
       der Terrasse und tragen Masken“, sagt der Vater. Erst zu streng, nun zu
       locker: „Wie man’s macht, macht man’s verkehrt.“
       
       Im ganzen Norden tun sich die Behörden schwer damit, das richtige
       Verhältnis von Schutz und Gleichbehandlung zu finden. In Bremen etwa
       benennt auch die aktuelle, zehnte „Verordnung zum Schutz vor
       Neuinfektionen“ Werkstätten oder Wohnhäuser für Menschen mit Behinderungen
       noch auf einer Stufe mit Pflegeheimen.
       
       Dabei hatte Arne Frankenstein, Landesbehindertenbeauftragter der
       Hansestadt, bereits vor einigen Wochen den Senat aufgefordert, „den
       Unterschied zwischen Pflegeheimen und Einrichtungen der Eingliederungshilfe
       hinreichend zu berücksichtigen“. Denn gerade junge und körperlich gesunde
       Behinderte erkranken nicht häufiger als der Rest der Bevölkerung.
       
       Für Dirk Mitzloff, stellvertretender Behindertenbeauftragter in
       Schleswig-Holstein, kamen daher die starken Einschränkungen zu Beginn des
       Lockdowns unerwartet: „Am Anfang habe ich noch gesagt, na dann seid ihr ja
       nicht gemeint, denn die Erlasse sprechen ja von vollstationärem Wohnen, das
       es in Schleswig-Holstein in der Eingliederungshilfe gar nicht mehr gibt.“
       Doch in Coronazeiten gelten die WGs dann doch wieder als Heime, egal
       welche Arten von Behinderungen die Bewohner*innen haben.
       
       Ein Problem ist, dass nicht alle Menschen mit Behinderungen eine
       Schutzmaske tragen können. Zwar gelten Ausnahmeregeln, dennoch komme es zu
       Diskriminierungen: Personen ohne Maske würden nicht in Busse gelassen,
       sogar Arztpraxen verweigerten den Einlass, berichtet Mitzloff. Die Idee,
       Betroffene mit einem Ausweis auszustatten, lehnte das Ministerium mit
       Hinweis auf die allgemeine Verordnung ab.
       
       Unterschiede gab es auch beim Arbeiten: Werkstätten für Menschen mit
       Behinderungen wurden zunächst alle geschlossen. „Alle Leute hingen zu
       Hause, ohne soziale Kontakte – für Leute mit psychischen und Suchtproblemen
       bedeutete das Vereinsamung und Rückfallgefahr“, sagt Kerstin Scheinert,
       Sprecherin der Werkstatträte in Schleswig-Holstein. Inzwischen wird wieder
       gearbeitet, allerdings in Kleingruppen. Dass es besondere Regeln für
       möglicherweise gefährdete Personengruppen gibt, findet Schreinert
       „letztlich nicht schlecht“. Die Einrichtungen würden sich Mühe geben, ist
       ihr Eindruck: „Es ist wichtig, dass man gut auf alle achtgibt.“
       
       Doch wo schlägt Achtgeben in Bevormunden um? Kerrin Stumpf vom Hamburger
       Verein „Leben mit Behinderung“ sah in „Corona auch eine Chance“, etwa in
       der Schule: „Durch Homeschooling und digitalen Unterricht sehen Lehrkräfte
       anders auf die Kinder und merken, was ein Kind mit Behinderung eigentlich
       kann.“ Dennoch hätten sich viele Eltern geärgert, dass für ihre Kinder
       besondere Regeln vorgesehen waren: „Es kam die Frage auf, ob die Kinder mit
       Behinderung nun überhaupt auch wieder zur Schule sollten – allein darüber
       diskutieren zu müssen, empfanden viele Eltern als empörend.“
       
       Dennoch hofft sie auf Verbesserungen und mehr Individualisierung im Herbst.
       Für einige Eltern, gerade wenn sie selbst schon älter und die Kinder
       erwachsen seien, habe der Lockdown mit dem strengen Besuchsverbot auch eine
       wichtige Erkenntnis gebracht, sagt Stumpf: „Sie haben gemerkt, dass es
       ihren Kinder gut geht, auch wenn die Eltern nicht regelmäßig kommen. Mir
       hat jemand gesagt: Nun kann ich auch beruhigt sterben.“
       
       28 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Esther Geißlinger
       
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