# taz.de -- Krise im Libanon: Abgang mit scharfzüngiger Warnung
       
       > Mitten in der Wirtschaftskrise tritt Libanons Außenminister zurück. Das
       > Boot drohe „mit allen an Bord“ zu sinken, heißt es zur Erklärung.
       
 (IMG) Bild: Sieht keinen Reformwillen bei seinen ehemaligen KabinettskollegInnen: Ex-Außenminister Hitti
       
       BERLIN taz | Man sollte meinen, Nasif Hitti hätte gewusst, worauf er sich
       einließ, als er Anfang des Jahres den Posten des Außenministers in Libanons
       neuer Regierung antrat. Glaubt man seinen Worten vom Montag, als er
       scharfzüngig seinen Rücktritt verkündete, war dies offenbar nicht der Fall.
       „Ich hatte große Hoffnung auf Wandel und Reform, aber die Realität hat das
       Fünkchen Hoffnung erlöschen lassen“, teilte der erfahrene Diplomat am
       Montagmorgen mit. Er werde seine Prinzipien und Überzeugungen nicht
       aufgeben für eine Position der Macht.
       
       Die noch junge libanesische Regierung unter Premierminister Hassan Diab war
       [1][im Januar angetreten], nachdem [2][monatelange landesweite
       Massenproteste] gegen Korruption und Misswirtschaft zum Rücktritt der
       vorherigen Regierung geführt hatten. Diab versprach, das Land mit einem
       Team aus parteilosen Fachleuten, die der traditionellen Machtelite des
       Landes fernstünden, aus der politischen und wirtschaftlichen Krise zu
       führen. BeobachterInnen kritisierten jedoch, dass auch Diabs Kabinett keine
       unabhängige Technokratenregierung sei, da viele Kabinettsmitglieder bei
       genauem Hinsehen mit der alten Machtelite verbandelt seien.
       
       Hitti erklärte anlässlich seines Rücktritts: „Ich bin Teil dieser Regierung
       geworden in der Annahme, dass ich einen Arbeitgeber habe: den Libanon.“
       Stattdessen habe er widersprüchliche Interessen vorgefunden, die nicht das
       Ziel hätten, „dem libanesischen Volk zu dienen und es zu retten“. Das Boot
       drohe „mit allen an Bord zu sinken“, warnte Hitti. Der Libanon drohe sich
       in einen „gescheiterten Staat“ zu verwandeln.
       
       Seit zwei Monaten verhandelt die Diab-Regierung mit dem Internationalen
       Währungsfonds (IWF) über Finanzhilfen; im Gegenzug wird die Regierung
       Strukturreformen umsetzen müssen. Doch Hitti zweifelte am Montag am
       Reformwillen seiner ehemaligen KabinettskollegInnen. Im Juni waren bereits
       zwei Mitglieder des libanesischen IWF-Verhandlungsteams aus Protest gegen
       mangelnden Reformwillen zurückgetreten.
       
       Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch mahnte am Montag
       Reformen an. „Der Libanon sollte sich verpflichten, die schwierigen, aber
       längst überfälligen Reformen durchzuführen, die seine Wirtschaft wieder in
       Schwung bringen und sicherstellen, dass alle Einwohner Zugang zu
       Gesundheitsversorgung und Bildung haben“, hieß es in einer Mitteilung der
       Organisation.
       
       Nasif Hitti ist der erste Minister der Diab-Regierung, der angesichts der
       aktuellen Krise zurückgetreten ist. Als neuer libanesischer Außenminister
       war Berichten lokaler Medien zufolge am Montagnachmittag Charbel Wehbe im
       Gespräch, einst Generalsekretär im Außenministerium in Beirut und
       libanesischer Botschafter in Paris.
       
       ## Neuer Lockdown
       
       Das politische Geschehen in dem multikonfessionellen Land wird seit Ende
       des Bürgerkriegs 1990 von verschiedenen Machtzentren bestimmt, in deren
       Zentrum meist eine prominente Familie, teils auch ein ehemaliger Kriegsherr
       steht. Durch klientelistische Politik wird die eigene Wählerschaft bei der
       Stange gehalten.
       
       Ein konfessionelles Proporzsystem bei der Vergabe öffentlicher Posten hat
       das Land zwar vor autokratischer Herrschaft bewahrt, gleichzeitig aber auch
       Misswirtschaft begünstigt. „Im Libanon ist die Korruption demokratisiert
       worden“, hat es der politische Analyst Marwan Muasher kürzlich
       [3][ausgedrückt]. Sie sei nicht bei einer Person oder einer Familie
       angesiedelt – wie beispielsweise im Nachbarland Syrien –, sondern habe sich
       überall ausgebreitet.
       
       Die momentane Finanz- und Wirtschaftskrise ist die schwerste seit Ende des
       Bürgerkriegs. Die Coronapandemie hat die Lage zusätzlich verschärft. Nach
       Lockerung von zuvor verhängten Maßnahmen war die Zahl der Neuinfektionen
       zuletzt wieder deutlich angestiegen.
       
       Über das islamische Opferfest am vergangenen Wochenende sowie über das
       kommende Wochenende hat die Regierung einen fünftägigen Lockdown verhängt,
       jeweils von Donnerstag bis Montag. Der libanesische Gesundheitsminister
       Hamad Hassan hatte zuvor einen Mangel an Disziplin bei der Einhaltung der
       Hygieneregeln beklagt.
       
       3 Aug 2020
       
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 (DIR) Jannis Hagmann
       
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