# taz.de -- Aktivistin über hyperandrogene Sportlerinnen: „Jeder Mensch hat Vorteile“
       
       > Die Aktivistin Payoshni Mitra setzt sich für Athletinnen mit höherem
       > Testosteronspiegel ein. Sie fordert das Ende medizinischer
       > Zwangseingriffe.
       
 (IMG) Bild: Sie hat der Debatte entscheidende Aufmerksamkeit verschafft: Läuferin Caster Semenya
       
       taz: Payoshni Mitra, Leichtathletinnen, die einen höheren
       Testosteronspiegel als der Durchschnitt der Frauen haben, dürfen auf
       Strecken von 400 bis 1500 Meter nur dann antreten, wenn sie ihren
       Testosteronwert [1][medikamentös senken]. Diese Regelung des
       Leichathletik-Weltverbandes „sind stigmatisierend, stereotypisierend und
       diskriminierend und haben keinen Platz im Sport oder in der Gesellschaft“,
       so der Menschenrechtsrat bei den Vereinten Nationen in einem aktuellen
       Bericht. Wie wichtig ist diese Botschaft für den Sport? 
       
       Payoshni Mitra: Äußerst wichtig! Wir kämpfen seit Jahren gegen diese
       diskriminierenden Regelungen im Sport, und endlich bringt der
       Menschenrechtsrat seine Unterstützung zum Ausdruck. Es ist eine
       Aufforderung an alle Staaten, Regelungen zu verbieten, die hyperandrogene
       Athletinnen unter Druck setzen, sich unnötigen medizinischen Eingriffen als
       Voraussetzung für die Teilnahme am Wettkampfsport zu unterziehen. Darüber
       hinaus rät der Bericht den Sportgremien, „ihre Zulassungsbestimmungen für
       die Einstufung/Beurteilung (female eligibility regulations) von Frauen zu
       überprüfen, zu revidieren und zu widerrufen“. Als Aktivistin auf diesem
       Gebiet bin ich optimistisch, dass diese Empfehlungen zu Veränderungen
       führen werden. Die französische Regierung hat bereits die Überprüfung
       medizinischer Untersuchungen in einem Krankenhaus in Nizza eingeleitet. Ich
       hoffe, dass auch andere Regierungen eine solche Verletzung der Rechte von
       Sportlerinnen aktiv untersuchen werden.
       
       Glauben Sie, dass es ein Umdenken geben wird? Wird dieser Bericht
       vielleicht dazu beitragen, dass die südafrikanische [2][Läuferin Caster
       Semenya] demnächst doch wieder über 800 Meter antreten kann? 
       
       Caster Semenya trainiert zurzeit für die 200 Meter-Strecke. Wir warten
       jedoch auch auf eine Entscheidung des Schweizer Bundesgerichts, wo Semenya
       die Entscheidung des Sportgerichtshofs (CAS) angefochten hat, der diese
       diskriminierenden Bestimmungen von World Athletics aufrechterhält.
       Andererseits hoffe ich auch, dass das Internationale Olympische Komitee
       progressive Schritte in Richtung Inklusion und Nicht-Diskriminierung
       unternehmen wird. Letztendlich ist es nicht nur wichtig, diese Regelungen
       abzuschaffen, sondern auch die Denkweise der Menschen in Führungspositionen
       im Sport zu ändern. Der Sport muss integrativer werden und die
       Gesellschaften inspirieren. Was wir heute sehen, ist das Gegenteil. Solche
       Regelungen schaden und verstärken Stereotype über das Frausein.
       
       Der ugandischen Mittelstreckenläuferin Annet Negesa wurde aufgrund dieser
       Regelungen sogar ein [3][großer körperlicher Schaden] zugefügt (siehe
       Kasten). Leugnen die Beteiligten des Leichtathletik-Weltverbands immer noch
       ihre Verantwortung? 
       
       Sie leugnen ihre Beteiligung nicht. Dr. Bermon (damals Mitglied der
       Medizinischen Kommission der IAAF, heute ihr Leiter, Anm. d. Red.) hat
       seine Beteiligung an keinem dieser Fälle geleugnet. Es gibt eine Studie,
       die von den Mitgliedern der medizinischen Kommission der IAAF ab 2013
       verfasst wurde. Darin sprechen sie über vier hyperandrogene Athletinnen aus
       Entwicklungsländern, an denen sie Operationen einschließlich Gonadektomie
       und Hysterektomie (Entfernung der Hoden und der Gebärmutter Anm. d. Red.)
       durchgeführt haben. Es gibt also keine Möglichkeit, dass sie ihre
       Verantwortung leugnen können.
       
       Annet Negesa sagte, sie wolle die verantwortlichen Personen vor Gericht
       bringen. 
       
       Das ist eine Option, aber ich bin jetzt nicht in der Lage, darüber zu
       sprechen. Wichtig ist, dass Annet sicher ist. Es war für sie gefährlich, in
       Uganda zu bleiben, da sie kurz vor den Olympischen Spielen als
       Intersex-Person identifiziert wurde. Die Menschen der LGBTIQ-Community in
       Uganda fühlen sich aufgrund extrem homophober politischer Entscheidungen
       zunehmend bedroht. Deshalb hat Annet in Deutschland Asyl erhalten, sie kann
       sich überlegen, was sie als nächstes tun möchte.
       
       Was erfahren wir über das Verhalten des Leichathletik-Weltverbandes im Fall
       von Annet Negesa? 
       
       Annets Fall zeigt, [4][wie wenig] sich der Weltverband um seine
       Athletinnen, ihr Wohlergehen und ihre Gesundheit kümmert, insbesondere,
       wenn sie aus dem globalen Süden kommen. Annet war sieben Jahre lang aus dem
       Wettkampfbetrieb verschwunden. Sie war sieben Jahre lang allein. Erst vor
       einigen Monaten konnte ich Kontakt zu ihr aufnehmen. Danach begann sie,
       über ihre Geschichte zu sprechen, und das konnte sie sieben Jahre lang
       nicht, weil sie nie wusste, dass es Menschen gibt, die zu ihr stehen und
       ihr zuhören würden.
       
       Gibt es noch mehr Athletinnen, die verschwunden sind? 
       
       Es gibt weitere Athletinnen, die verschwunden sind, und wir wissen nicht,
       in welchem Zustand sie heute leben. Die Hyperandrogenismus-Regeln betreffen
       mehr Athletinnen aus dem globalen Süden, wo sie hilfloser sind, wo es ihnen
       an Unterstützung mangelt, wo sie sich ihrer Rechte weniger bewusst sind als
       die besserberechtigten (more entitled) Athlet*innen des Westens. Ich möchte
       auch deutlich machen, dass das nicht nur in der Leichtathletik ein Thema
       ist. Ich habe begonnen, mit einigen Fußballerinnen zu arbeiten. Auch die
       FIFA-Gender-Regeln sind diskriminierend und müssen ebenfalls aufgehoben
       werden.
       
       Es ist nicht einmal sicher ist, ob Frauen mit hohen Testosteronwerten
       überhaupt körperliche Vorteile haben? 
       
       Das ist ein anderer Gesichtspunkt. Ich habe Wochen damit verbracht, darüber
       zu diskutieren und Experten aus der Medizin zuzuhören. Ich habe an zwei
       richtungsweisenden Fällen vor dem CAS teilgenommen. Ich glaube nicht, dass
       irgendjemand mit Sicherheit sagen kann, dass es einen Vorteil gibt. Es ist
       sehr schwierig, Vorteile zu messen. Jeder Mensch hat verschiedene Arten von
       Vorteilen. So haben Menschen im Westen, in wohlhabenden Ländern mit
       fortschrittlichen Sportanlagen, eine andere Art von Vorteilen als die
       Athletinnen, mit denen ich im globalen Süden gearbeitet habe. Warum
       sprechen wir nur über einige wenige Eigenschaften? Warum zielen wir auf
       hyperandrogene Athletinnen, warum grenzen wir eine bestimmte Gruppe von
       Frauen aus? Das sind die Fragen, die wir uns stellen müssen.
       
       Wird es in Zukunft ein Umdenken geben – auch durch die Sichtbarkeit von
       Caster Semenya, Dutee Chand und Annet Negesa? 
       
       Ich stimme Ihnen zu, dass der Fall von Caster Semenya diesem Thema in den
       Medien beispiellose Aufmerksamkeit geschenkt hat. Wenn ich nicht
       optimistisch wäre, hätte ich diese Arbeit nicht ein Jahrzehnt lang machen
       können. Vor elf Jahren, als ich mit Santhi Soundarajan (eine indische
       hyperandrogene Sprinterin, Anm.d. Red.) zu arbeiten begann, gab es keine
       Hoffnung. Es hat kaum jemand darüber gesprochen. Selbst die
       Journalist*innen interessierten sich nicht für das, was wir sagten.
       
       Zehn Jahre später hat fast jede bekannte Zeitung der Welt über diese Themen
       berichtet, mehrere Dokumentarfilme sind im Entstehen. Ich glaube, es gibt
       ein [5][größeres Bewusstsein] dank Caster Semenya und ihrer
       Widerstandsfähigkeit, dank der indischen Läuferin Dutee Chand, die als
       erste vor dem CAS gegen die Hyperandrogenismus-Regeln geklagt hat, und auch
       dank Annet Negesa. Dieses verstärkte Bewusstsein wird auch anderen jungen
       hyperandrogen Sportlerinnen helfen. Bis vor kurzem dachten sie, sie müssten
       entweder mit dem Sport aufhören oder medizinische Maßnahmen ergreifen.
       Heute wissen sie, dass es eine rechtliche Möglichkeit gibt. Dass sie „Nein“
       zu einer medizinischen Intervention sagen können. Dass sie sich für ihren
       Körper nicht schämen müssen, weil sie so geboren werden, wie sie sind.
       
       Sie sind sich ihrer Rechte bewusster, weil diese drei Sportlerinnen
       öffentlich über die Ungerechtigkeit gesprochen haben. Sie haben also jedes
       Recht, so anzutreten, wie sie sind. Diese Botschaft hat mehrere junge
       Athletinnen erreicht, die von den Vorschriften betroffen sind.
       
       Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Sportsystems? 
       
       Es ist der gleiche Wunsch, den ich für die Gesellschaft habe. Ich wünsche
       mir, dass der Sport in Zukunft geschlechtergerechter wird – dafür habe ich
       all die Jahre gekämpft und werde es auch weiterhin tun. Sportverbände haben
       eine Fürsorgepflicht, die sie erfüllen müssen. Diskriminierung aufgrund von
       Rasse und Geschlecht ist im heutigen Sport wie auch in der Gesellschaft
       inakzeptabel. Und sie muss aufhören. Sportfunktionäre sind zu sehr darauf
       bedacht, wer es auf das Podium schafft. Ich wünschte, sie würden sich mehr
       darauf konzentrieren, das Spielfeld sicherer und integrativer zu machen.
       
       2 Aug 2020
       
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