# taz.de -- Kampf gegen Corona: Das Impfroulette
       
       > Wann kommt ein Impfstoff gegen Covid-19? Wahrscheinlich erst Anfang 2021.
       > Die Produktion von Impfdosen läuft indes auf Hochtouren.
       
 (IMG) Bild: Von Brasilien bis China sind Impfstoffe gegen Covid 19 in der Testphase
       
       An der Goldgrube heißt die Straße in Mainz, in der eine Firma gerade das
       tut, worauf viele warten: Bei dem Biotechnologie-Unternehmen BioNTech hat
       die Produktion des Corona-Impfstoffes BNT162b2 in großem Stil begonnen. Das
       Karlsruher Logistikzentrum des Partnerkonzerns Pfizer, seines Zeichens
       US-amerikanischer Pharmariese, ist umgerüstet, um Hunderte Millionen
       Impfdosen bei minus 70 Grad lagern zu können.
       
       Eine „supranationale Aufgabe“ sei das, sagt eine BioNTech-Sprecherin: In
       Deutschland wird nur der Ausgangsstoff des Impfstoffes produziert,
       mRNA-Erbgut, das an menschliche Immunzellen andocken soll, um ihnen
       beizubringen, Abwehrstoffe gegen das Sars-Cov-2-Virus zu bilden. In
       Österreich wird die mRNA in kleine Fettkügelchen verpackt, in Belgien,
       unweit des EU-Parlaments, werden die Impffläschchen befüllt.
       
       Bis Ende des Jahres will Pfizer/BioNTech 100 Millionen Impfdosen in
       Deutschland und den USA produzieren, im nächsten Jahr 1,3 Milliarden – die
       Logistik mache Dutzende Frachtflüge und Hunderte Lkw-Fahrten täglich nötig,
       schreibt das Wall Street Journal und zitiert Tanya Alcorn,
       Logistik-Vizechefin bei Pfizer, mit den Worten: „Es ist die größte
       Impfkampagne aller Zeiten.“
       
       Auch die Bundesregierung reagiert: Wie Bild berichtet, verlangt die
       Bundesregierung bis zum 10. November von den Ländern die Adressen von
       Impfzentren, um sie mit Kühlgeräten auszustatten. Das ist für eine
       Langzeitlagerung der Impfstoffe nötig, bei Kühlschranktemperatur soll der
       von BioNTech fünf Tage haltbar sein. Eine Sprecherin Spahns will sich dazu
       nicht äußern. Die Ständige Impfkommission in Deutschland erarbeitet aber
       bereits Pläne, wo die Impfstoffe als Erstes eingesetzt werden sollen.
       
       ## Bislang konnte keine Wirksamkeit erwiesen werden
       
       Es gibt also deutliche Fortschritte, denn auch eine Reihe anderer
       Hersteller wie die britische AstraZeneca oder die US-amerikanische Moderna
       sind in einer ähnlichen Phase der Entwicklung wie Pfizer und BioNTech.
       Klingt ermutigend, bringt aber leider überhaupt nichts, um die derzeit nach
       oben schießende Infektionskurve (11.242 erfasste Neuinfektionen und 49 Tote
       in Deutschland, Stand Freitag) zu drücken. In ganz Europa gab es eine
       Verdopplung der Fallzahlen binnen zehn Tagen.
       
       Bisher ist bei keinem einzigen Impfstoff die Wirksamkeit erwiesen – noch
       nicht einmal bei den sechs Stoffen, die China und Russland zugelassen
       haben. Der Trick dort: Die Staaten haben einfach das Ergebnis der dritten
       und entscheidenden Stufe klinischer Tests übersprungen und vorab Militär
       und medizinisches Personal geimpft. Die Zulassungen erfolgten also, ohne
       dass Wirkungen und Nebenwirkungen ausreichend erforscht sind.
       
       Ein solches Vorgehen wäre in den USA und in der EU undenkbar. Die
       US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel (FDA) und die EMA (Europäische
       Arzneimittel-Agentur) treffen hier die Entscheidungen. Der ehemalige
       FDA-Verantwortliche für öffentliche Gesundheit, Peter Lurie, schrieb im
       September [1][in der Washington Post], dass generell nur rund die Hälfte
       der Impfstoffe, die Phase 3 erreichen, am Ende auch genehmigt werden.
       
       In 8 von 22 Fallbeispielen, die er untersuchte, traten in dieser letzten
       Phase unerwartete Gesundheitsrisiken auf.
       
       ## Impfstoffe frühestens Anfang 2021
       
       In der vergangenen Woche gab es scheinbar widersprüchliche Meldungen von
       beiden Seiten des Atlantiks zu der Frage, wann die ersten Impfstoffe zur
       Verfügung stehen könnten.
       
       Die EU-Kommission hatte von Monaten gesprochen, Bundesforschungsministerin
       Anja Karliczek von Mitte 2021, Gesundheitsminister Jens Spahn aber hat laut
       Bild intern angeblich behauptet, dass es noch in diesem Jahr erste
       Impfungen geben könnte – das war auch aus den USA zu hören. Spahn ließ
       seine Sprecherin am Freitag korrigieren: frühestens Anfang nächsten Jahres.
       
       Bei genauem Hinsehen widersprechen sich die Meldungen so stark nicht,
       zumindest basieren sie alle auf Interpretationen der in den USA und der EU
       gleichen Faktenlage.
       
       Lembit Rägo ist Direktor des Rates für internationale Organisationen der
       medizinischen Wissenschaft. Er schreibt der taz: „Im Kern unterscheiden
       sich die wissenschaftlichen Einschätzungen von Impfstoffkandidaten auf
       beiden Seiten des Atlantiks kaum.“ Die USA könnten bald eine Notfalllizenz
       für Impfstoffe erteilen, die Europäer eine vorläufige Marktzulassung.
       Beides ist ungefähr das Gleiche und nur möglich, wenn, wie derzeit, ein
       Gesundheitsnotstand herrscht.
       
       Das heißt auch, dass in dem Fall „weniger Informationen zur Verfügung
       stehen, als bei einer normalen Marktzulassung eines Impfstoffes zu erwarten
       wäre“, schreibt die EMA der taz. Die generelle Sprachregelung ist, dass die
       Vorteile einer Impfung die Risiken überwiegen müssen.
       
       ## BioNTech testet in der entscheidenden dritten Phase
       
       In der EU heißt das nun konkret: Die Pharmafirma BioNTech testet ihren
       Impfstoff in der entscheidenden dritten Phase weltweit an 37.000
       Proband*innen, Anfang Oktober hatten 28.000 davon bereits ihre zweite
       Impfdosis erhalten. Wenn die Daten von mindestens 3.000 von ihnen
       ausgewertet sind und binnen sechs Wochen nach der zweiten Impfung keine
       unerwarteten Nebenwirkungen auftreten, gilt der Impfstoff als sicher,
       vorläufig. In den USA muss der Impfstoff zusätzlich bei mindestens der
       Hälfte der Teilnehmenden gewirkt haben.
       
       Mehrere Hersteller haben bald genug Daten, damit die Behörden das
       beurteilen können. Für die USA hat Pfizer angekündigt, in der dritten
       Novemberwoche eine Notfallzulassung zu beantragen. Die EMA prüft die Daten
       des Impfstoffes des britischen Herstellers AstraZeneca und von BioNTech
       seit Anfang Oktober, allerdings noch nicht die der dritten klinischen
       Phase.
       
       Das bedeutet, dass bald genug klinische Daten in den USA vorliegen und
       damit auch in Europa. Die Bewertung könnte dann sehr schnell gehen: Die EMA
       etwa verspricht für jeden Schritt der Zulassung in ihrem „Rolling
       Review“-Verfahren eine Bearbeitungszeit von zwei Wochen.
       
       Es wäre also gut möglich, dass bereits im Dezember ein oder zwei Impfstoffe
       zugelassen werden. Die entscheidende Frage ist dann aber: Wie damit
       umgehen, dass es lediglich eine Zulassung auf Vorbehalt wäre, basierend
       darauf, dass „der Vorteil einer sofortigen Verfügbarkeit das Risiko einer
       limitierten Datenlage übersteigt“, wie die EMA schreibt?
       
       ## Zulassung kann jederzeit entzogen werden
       
       Die Zulassung kann jederzeit entzogen werden, wenn sich die Sachlage bei
       der Auswertung der gesamten klinischen Tests ändert. Nicht auszudenken, was
       los wäre, würde man einem Impfstoff erst auf den Markt werfen und dann doch
       wieder einkassieren, weil es unerwartete Nebenwirkungen gab. Das Vertrauen
       in der Bevölkerung wäre wohl dahin.
       
       Das Risiko ist gegeben, wie aus einer online übertragenen Anhörung von
       FDA-Expert*innen am Donnerstag hervorgeht: Selbst nach einer endgültigen
       Marktzulassung kann es zu unerwarteten Nebenwirkungen kommen. Manche seien
       so selten, dass sie selbst in großen klinischen Studien nicht auftreten,
       andere erst nach einem längeren Zeitraum. Für Risikogruppen wie schwangere
       Frauen gibt es noch keine Daten.
       
       Es ist eine Frage des öffentlichen Erwartungsmanagements, ob sich
       Politiker*innen angesichts der Sachlage dazu hinreißen lassen, einen
       baldigen Erfolg zu verkünden – oder zurückhaltend sind, um keine falschen
       Hoffnungen zu wecken. Der Chef des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler,
       gab in dieser Woche auf die Frage einer Journalistin, wann es einen
       Impfstoff gibt, die sokratische Antwort: „Das ist eine Frage, die wir alle
       nicht richtig beantworten können.“
       
       23 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.washingtonpost.com/opinions/2020/09/15/nobody-wants-vaccine-trials-fail-they-just-might/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ingo Arzt
       
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