# taz.de -- Fest(e) in der Krise: St. Martin nur privat unterwegs
       
       > Der Martinstag ist ein Fest geprägt von leuchtenden Lichtern und dem
       > Gedanken an Solidarität und Nächstenliebe. Was bleibt davon in diesen
       > Zeiten?
       
 (IMG) Bild: Eine Schar Kinder mit Laternen. Kein Bild, das wir dieses Jahr sehen werden
       
       BERLIN taz | Der Martinstag, also das Fest des heiligen Martin von Tours,
       der gemeinhin als Sankt Martin bekannt ist, wird traditionell am 11.
       November begangen. Es ist zwar ein katholisch geprägtes Fest, wird aber
       auch evangelisch gefeiert.
       
       Die bekanntesten Bräuche wie das festliche Gans-Essen und noch viel mehr
       der Laternenumzug, werden aber auch überkonfessionell begangen. An den
       längst nicht mehr rein christlich verstandenen Lichterfesten nehmen schon
       lange Kinder wie Erwachsene mit unterschiedlichstem kulturell-religiösen
       Hintergrund teil.
       
       Trotzdem wird von geselligen Festessen und glücklichen Kindern, die in
       Scharen mit ihren selbst gebastelten Laternen einen fröhlich leuchtenden
       Umzug in ihrem Kiez veranstalten, dieses Jahr vermutlich nicht viel zu
       sehen sein. Die auf der Website der Stadt Berlin aufgeführten Umzüge sind
       durchgängig abgesagt.
       
       ## Kein St.Martin „zum Vergnügen“
       
       Daniel Bartsch, der Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
       Senatsverwaltung für Kultur, erklärt, dass anders als beispielsweise das
       Freitagsgebet oder der Sabbat, die Feierlichkeiten zum Martinstag nicht als
       „religiös-kultische Veranstaltungen“ gelten und deswegen nicht stattfinden
       dürfen. Der Senat fasst die Umzüge als Veranstaltungen „zum Vergnügen“ auf,
       weswegen sie unter den aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung des
       Infektionsgeschehens nicht erlaubt sind.
       
       Trotzdem dürfe man natürlich mit seinen eigenen Kindern (und Laternen) an
       diesem Tag um den Block laufen, vertröstet Bartsch. All diejenigen, die
       nicht aufs Umherziehen oder aufs Basteln verzichten möchten, müssen das
       also nicht in Gänze tun.
       
       Bilder von flackernden Lichtermeeren und Kindern, die singend (und
       vielleicht auch mal schreiend) umherziehen, werden dieses Jahr wohl
       trotzdem nicht auftauchen.
       
       Wenn von den materiellen Facetten des Festtages dieses Jahr also nicht viel
       übrig bleiben kann, was ist mit der ideellen Seite? Was ist mit den Ideen,
       die mit dem heiligen Martin verbunden sind, kurz gesagt: Was bleibt von der
       Bedeutung des Tages?
       
       ## Legende von Sankt Martin
       
       Um das zu beantworten, muss man sich den Kern der Legende vor Augen rufen,
       die sich um Martin, einst Soldat und später Bischof, rankt. Auch wenn viele
       sie in Form eines Kinderliedes vielleicht noch im Kopf haben, schadet eine
       kleine Auffrischung bestimmt nicht.
       
       Die bekannteste Geschichte, die sich um Sankt Martin dreht und den
       moralischen Gehalt des Festtages ausdrückt, ist vermutlich die der
       Mantelteilung. Der Sage nach soll Martin in einem bitterkalten Winter auf
       einen Bettler getroffen sein, der ohne warme Kleidung den Widrigkeiten
       schutzlos ausgeliefert war. Während andere den Frierenden ignorierten,
       zerschnitt Martin seinen eigenen Soldatenmantel in zwei Teile und gab dem
       Bettler die Hälfte zum Schutz gegen die Kälte.
       
       Mit nur noch einem halben Mantel für sich selbst soll Martin für diesen
       Anblick verspottet worden sein, ließ sich aber in dem Wissen, das Richtige
       getan zu haben, nicht beirren, worauf ihm Jesus in der folgenden Nacht
       erschienen sein soll, um ihm für seine Güte zu danken.
       
       So weit die alte Story. Auch wenn über die Sinnhaftigkeit des Rezitierens
       von religiösen Märchen gestritten werden kann, ist die Botschaft dieser
       Geschichten meist sehr klar: Es geht um Nächstenliebe, Solidarität und
       Mitgefühl.
       
       ## Solidarität in der Krise
       
       Die Werte, auf die sich diese Schlagwörter beziehen, verlieren durch
       Infektionsschutzverordnungen zum Glück nicht ihren Gehalt.
       
       Im Gegenteil: In diesen Zeiten der Krise, in denen sich Tausende Menschen
       tagtäglich mit gesundheitlichen und finanziellen Sorgen konfrontiert sehen,
       darf so etwas wie die Solidarität in einer Gesellschaft nicht an Bedeutung
       verlieren, sondern muss zunehmen.
       
       Es gibt aber einen Knackpunkt in dem Vergleich mit der Geschichte von Sankt
       Martin: Die Solidarität, die jetzt notwendig ist, darf eben kein Märchen
       sein, sondern muss praktisch erfolgen. Wenn also – ganz passend zu der
       Erzählung – angesichts des nahenden Winters und der zweiten Coronawelle
       Obdachlose in Berlin ein seit Jahren leer stehendes Haus besetzen, so wie
       es letzte Woche geschehen ist, gilt es, solidarisch zu sein.
       
       Wo Martin in der Geschichte den Bettler mit einem halben Mantel vor der
       Kälte schützen konnte und dafür sogar noch den Dank von Jesus
       höchstpersönlich bekommen hat, sind die Grundbedürfnisse von realen
       Menschen doch etwas umfangreicher. Das Recht auf Wohnen, Bildung,
       Bewegungsfreiheit, Nahrung, Kleidung etc. für alle in der Gesellschaft zu
       gewährleisten, wird in der Krise noch wichtiger.
       
       Leider sind diejenigen, die mit Leerstand spekulieren und die die Mittel
       hätten, diese Grundrechte für alle sicherzustellen, oftmals keine Heiligen.
       Wenn Deutsche Wohnen, Vonovia & Co. ihre „Mäntel“ also nicht teilen wollen,
       dann ist die moderne Bedeutung von Geschichten wie der von Sankt Martin
       vielleicht eine von sozialem Ausgleich, Umverteilung und
       Vergesellschaftung.
       
       Auch wenn der Shutdown keine großen Umzüge zulässt, gibt es zumindest
       theoretisch die Möglichkeit, unabhängig vom Tag immer ein oder zwei
       Laternen zu Hause zu basteln. Genauso sollten Geschichten von Nächstenliebe
       und Menschlichkeit nicht nur an Weihnachten oder eben am Martinstag
       erzählt, sondern Tag für Tag im alltäglichen Leben praktische Realität
       werden. Bei all ihrer Dramatik kann die Coronakrise den Menschen dafür
       vielleicht ein Gespür geben.
       
       7 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Roberto Sanchino Martinez
       
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