# taz.de -- Neue Songs von Charlotte Brandi: Die Proberaum-Pflanze
       
       > Charlotte Brandi war mit Me and My Drummer erfolgreich, nun macht sie
       > solo Musik. Ihre neue EP „An das Angstland“ erinnert an alte
       > Schlager-Granden.
       
 (IMG) Bild: „Ich finde diese Herzensebene total wichtig. Die muss man auch ownen“, sagt Charlotte Brandi
       
       Gibt es einen Unterschied zwischen einer Songwriterin und einer
       Liedermacherin? Die Frage mag zunächst komisch anmuten, scheinen beide
       Wörter doch das Gleiche zu bezeichnen. Hört man aber die neue EP von
       Charlotte Brandi, so kann sie durchaus berechtigt sein.
       
       Die Musikerin, die jahrelang beim Indie-Pop-Duo Me and My Drummer sang,
       textet darauf erstmals auf Deutsch und singt klassische Lieder, die man in
       einer dritten Sprache als Chanson bezeichnen würde.
       
       „Deutscher Gesang in Kombination mit einer eingängigen Melodie hatte für
       mich immer etwas Kinderliedhaftes. Dass ich das so eingeordnet habe, fand
       ich interessant, denn eine solche Assoziation hätte ich ja nicht gehabt,
       wäre das Lied auf Französisch gewesen“, sagt Brandi im Chat-Interview. Und
       führt einen dahin, worum es ihr als Solistin geht: Hörgewohnheiten
       hinterfragen, Kategorisierungen aufbrechen, Altes in neue Kontexte
       überführen.
       
       Charlotte Brandi [1][aktualisiert auf der EP] einen Sound, der vor langer
       Zeit seine Blütezeit hatte, die vier Stücke erinnern gelegentlich an
       Schlagersängerinnen wie Alexandra und Hildegard Knef. Auf solche Referenzen
       angesprochen, nickt sie.
       
       „In den Sechzigern und Siebzigern gab es im deutschsprachigen Raum noch
       romantische Kompositionen mit schwelgerischen Melodien und poetischen
       Texten, die nicht eins zu eins entschlüsselbar waren. In den Liedern ging
       es vor allem darum, Stimmungen einzufangen. Das kommt jetzt wieder.“
       Tatsächlich gab es – zum Beispiel mit [2][Stella Sommer] und Michaela Meise
       – zuletzt vermehrt die Tendenz, sich von großen Liedermacherinnen
       inspirieren zu lassen.
       
       ## Residenz in Wien
       
       Auch jenseits des Sprachwechsels orientiert sich Brandi neu. Im Vergleich
       zu ihrem Solodebüt „The Magician“ (2019), das zwischen Soul, Pop und Folk
       changierte, bekommt der Gesang noch mehr Gewicht. Die Sopranstimme Brandis
       steht im Vordergrund, understatementmäßig legt sie verspielte Gitarren- und
       Pianomelodien darunter, die eine Liebe zum US-Indie/-Folk und Jazz erkennen
       lassen.
       
       „An das Angstland“ hat Brandi die EP genannt, was einen weiten
       Assoziationsraum vom Corona-Unsicherheitsgefühl über die German Angst bis
       hin zur Angstlust eröffnet (in den Songs wird der Titel nicht
       aufgegriffen). Aktuell hält sich Brandi in Wien auf, wo sie eine Art
       Residenz hat, das Interview gibt sie während einer Probepause. Sie arbeite
       an neuen Songs für ein Album, „das sich gerade formt“.
       
       Geboren und aufgewachsen ist Charlotte Brandi in Dortmund. Manchmal hört
       man das, wenn bei ihr Artikel oder Pronomen auf „t“ enden, die für andere
       auf „s“ enden. Sie stammt aus einer Musikerfamilie, ihr Vater Peter
       Freiberg spielt in den Achtzigern bei der [3][Band Conditors], ihre Mutter
       Klara Brandi ist zu der Zeit Saxofonistin und Sängerin [4][bei Cochise],
       einer überregional bekannten linken Polit-Folkrock-Band.
       
       Proberaumgeruch sei eine ihrer frühesten Erinnerungen, sagt sie, „und wir
       alle wissen, wie das riecht: nach Teppichen, auf denen ein paar Mal zu oft
       Bier ausgekippt wurde, nach Rauch und dem komisch metallischen Geruch von
       Equipment“.
       
       In ihrer Jugend singt Brandi in einer Funkband, beginnt eigene Songs zu
       komponieren. Nach der Schule studiert sie kurzzeitig Musik in den
       Niederlanden, geht dann aber 2008 ans Tübinger Landestheater, wo sie den
       Schlagzeuger Matthias „Matze“ Pröllochs kennenlernt. Die beiden machen
       Theatermusik zusammen, gründen die Indieband [5][Me and My Drummer], sind
       auch privat ein Paar. 2010 ziehen sie nach Berlin. Und veröffentlichen zwei
       erfolgreiche Alben. 2018 lösen sie die Band auf, nachdem sie sich auch
       privat getrennt hatten.
       
       „Auf persönlicher Ebene war das schmerzhaft. Künstlerisch war es das einzig
       Richtige, denn da hatten wir einander nichts mehr zu sagen. Deshalb hat es
       sich dann auch wie eine Befreiung angefühlt“, sagt Brandi heute. Seither
       probiert sie sich neu aus – und scheint in der Solistinnenwerdung immer
       mehr bei sich anzukommen.
       
       ## Duett mit Dirk
       
       Denn auch der inhaltliche Fokus ist neu. Die Texte wirken oberflächlich
       betrachtet sehr einfach, legen darunter aber oft eine zweite Ebene frei.
       „Frieden“ zum Beispiel kommt zunächst als seltsam sinistre
       Jungs-und-Mädchen-Schulhof-Geschichte daher, ist im Grunde aber ein Text
       über Geschlechterverhältnisse. „Sobald ich den Fuß aufsetze, mach ich eine
       Spur/ Wenn ich meinesgleichen verpetze, ist’s meine Natur/ Lehn ich mich
       an, dann schmelze ich/ Tu ich es nicht, dann strauchle ich“, singt Brandi
       darin.
       
       Dann wieder wirken die Texte kryptisch, erschließen sich aber mit jedem Mal
       Hören mehr. In [6][„Wind“, das sie im Duett mit Dirk von Lowtzow singt],
       wünscht sich das lyrische Ich eingangs, sich in eine Topfpflanze zu
       verwandeln („Kein Bein mehr, kein Fleisch, kein Stolz“). Im Refrain heißt
       es dann: „Was hab ich davon, 'ne Frau zu sein/ Wenn ein fleischloses Wesen
       den Rumpf mir sprengt/ Ich wiege mich nur im Wind allein/ Habe Falten auf
       einer Stirn/ Die was denkt.“
       
       Im Zustand des Dahinvegetierens während der Coronazeit scheint das Lied gut
       zu passen – einzig: Brandi hat es schon vor der Pandemie geschrieben. „Das
       Stück stellt eher allgemeine Fragen danach, was den Menschen ausmacht. Der
       Mensch hat schon immer die allermeisten Dinge für selbstverständlich
       gehalten und geht übermütig mit seinen Freiheiten um. Bis er irgendwann
       feststellt, dass diese Freiheiten von heute auf morgen wegfallen können“,
       sagt sie.
       
       Der Song „Wut“ handle dagegen davon, das Gefühl der Aggression als
       grundsätzlich Menschliches zu akzeptieren und sie nicht falsch zu
       kanalisieren („Was verdient meine Wut/ wann trifft sie endlich ins Ziel“).
       
       Angst, ins Banale oder Kitschige zu kippen, dürfe es nicht geben, meint
       sie: „Ich finde diese Herzensebene total wichtig. Die darf man nicht den
       anderen überlassen, die muss man auch ownen. Ich finde es gut, wenn sich
       Leute den Gefühlen hingeben, von denen seit Menschengedenken erzählt wird:
       Liebe, Sehnsucht, Traurigkeit, Angst, was auch immer.“
       
       Und die Musik? Wie Brandi Synthesizer und Flöten einsetzt, wie die
       Gitarren-Tonfolgen da ihre Schleifen ziehen, das ist erkennbar auch am
       „postdigitalen“ Indie-Folk aus den USA geschult. In Berlin ist Brandi Teil
       einer angenehm undogmatischen und offenen Szene, sie hat etwa schon mit
       Sam-Vance Law, Wallis Bird, Isabel Ment oder Tristan Brusch
       zusammengearbeitet.
       
       Ihre Wahlheimat findet sie – zu normalen Zeiten – inspirierender als ihre
       aktuelle Arbeitsstätte Wien. „Berlin ist komplett anders, Berlin ist wie
       eine einzige große Frage an dich: ‚Was machst du mit mir?‘. Und es gibt
       diese latente Stressangst, die die ganze Zeit in der Luft liegt. Das treibt
       einen ja ganz anders.“
       
       Ihre neuen Songs wiederum, die sind gerade Shutdownzeiten wohltuend mellow
       und bewahren einen vorm Abstumpfen.
       
       6 Dec 2020
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [6] https://www.youtube.com/watch?v=OE-N8uBNTNI
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jens Uthoff
       
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