# taz.de -- Ärztin über Genitalverstümmelung: „Wir dürfen nicht wegschauen“
       
       > Cornelia Strunz hat das erste deutsche Fachbuch zu weiblicher
       > Genitalverstümmelung mit herausgegeben. Betroffene können oft nicht
       > darüber sprechen.
       
 (IMG) Bild: Extreme Gewalt: Modelle, die die Auswirkungen von weiblicher Genitalverstümmelung erklären
       
       taz: Frau Strunz, es gibt keinen einzigen bekannten Fall in Deutschland,
       bei dem weibliche Genitalverstümmelung praktiziert wurde. Sie haben nun das
       erste deutschsprachige Fachbuch zum Thema herausgegeben. Wozu braucht es
       das? 
       
       Cornelia Strunz: Das braucht es, weil trotzdem [1][sehr, sehr viele Frauen
       in Deutschland leben, die beschnitten wurden.] Die Frauenrechtsorganisation
       Terre des Femmes geht von 74.000 Mädchen und Frauen aus. Sie wurden in
       ihren Heimatländern genitalverstümmelt, meisten im Alter von vier bis
       vierzehn Jahren, und kamen irgendwann nach Deutschland.
       
       Wie kommt es, dass das Thema trotz der vielen Betroffenen so wenig
       öffentliche Aufmerksamkeit bekommt? 
       
       Für viele Frauen gehören die Beschwerden, die sie haben, einfach dazu: die
       Schmerzen, die Angst vor Berührung und Sexualität, dass das
       Menstruationsblut kaum abfließt oder dass sie 20 Minuten zum Wasserlassen
       brauchen. Und auch wenn sie wissen, dass sie beschnitten sind, bleibt es
       für viele ein Tabu, darüber zu sprechen.
       
       Manche wissen es gar nicht? 
       
       Viele wissen es nicht, das stelle ich auch in meiner Sprechstunde immer
       wieder fest. Ich kläre sie dann behutsam auf. Bei mir rufen aber auch immer
       wieder KollegInnen an, GynäkologInnen, die sagen: Ich habe hier eine Frau,
       die ist beschnitten, aber ich wusste nicht, wie ich es ihr sagen soll und
       wie ich ihr helfen kann. Auch deshalb haben wir das Buch gemacht.
       
       Es ist vor allem für MedizinerInnen gedacht? 
       
       Einerseits soll es auch für medizinische Laien verständlich erklären, was
       weibliche Genitalverstümmelung bedeutet. Deshalb gibt es zum Beispiel
       Erfahrungsberichte ehemaliger Patientinnen: Was ist ihnen widerfahren, was
       bedeutet das für sie und ihr Leben? Menschen, die mit Betroffenen arbeiten,
       ordnen zudem ein, woher die Praxis kommt und wie die rechtliche Situation
       hierzulande ist.
       
       Zudem richtet sich das Buch auch gezielt an medizinisches Personal:
       ÄrztInnen und KollegInnen aus den Pflegeberufen, [2][Hebammen zum
       Beispiel]. Wenn die nie zuvor gesehen haben, wie eine Frau aussieht, die
       komplett zugenäht ist und bei der es nur eine stecknadelkopfgroße Öffnung
       zum Urinieren gibt, können sie in der Praxis auch nicht damit umgehen.
       Daraus entsteht Scheu, die Frauen zu behandeln.
       
       In den Erfahrungsberichten schreiben Frauen von Glasscherben, mit denen
       ihnen Klitoris und Schamlippen herausgeschnitten und Dornen, mit denen sie
       bis auf eine winzige Öffnung verschlossen wurden. Was unterscheidet
       weibliche Genitalverstümmelung von männlicher Beschneidung? 
       
       Das ist überhaupt nicht vergleichbar! Würden Männer so beschnitten, wie
       Frauen beschnitten werden, hieße das, man würde den ganzen Penis entfernen.
       Weibliche Genitalverstümmelung ist eine extrem gewaltvolle Praxis. Laut
       Weltgesundheitsorganisation sterben 10 Prozent der Betroffenen an den
       akuten und 25 Prozent an den langfristigen Folgen.
       
       Zum Teil sind die Geschichten, die im Buch erzählt werden, unfassbar
       grausam – zum Beispiel die einer Geburt, bei der das Baby durch die
       Verstümmelungen im Geburtskanal feststeckte. Die Frau musste großflächig
       aufgeschnitten werden, das Baby starb dennoch. Auch die expliziten Fotos,
       die Sie zeigen, sind zum Teil kaum zu ertragen. Muss das sein? 
       
       Wir dürfen nicht wegschauen. Einer Frau, die bei uns in der Klinik war, ist
       genau das passiert, was Sie gerade beschrieben haben. Sie war schwerst
       traumatisiert. Diese Frauen leben hier, wir sind hier mit ihren Problemen
       konfrontiert und müssen einen Weg finden, damit umzugehen. Unser Ziel ist
       auch, über die furchtbaren Folgen von weiblicher Genitalverstümmelung
       aufzuklären. Wir müssen zeigen und sehen, welches Leid die Frauen ertragen
       – und dass es dafür medizinische Hilfe gibt.
       
       Sie schreiben auch: „Die Angst vor dem Geschlechtsverkehr mit dem
       Ehepartner kann durch die Rekonstruktion vermindert werden.“ Heißt das,
       dass eine normale Sexualität trotz einer Operation nie lebbar sein wird? 
       
       Bei vielen Frauen ist ganz tief verwurzelt, dass jede Berührung schmerzhaft
       ist. Die Verstümmelung ist ja gerade darauf angelegt, dass Sexualität mit
       Qualen und Festhalten und Gewalt einhergeht. Unsere Aufgabe ist es, in
       jedem Einzelfall zu beraten und zu schauen, was möglich ist. In vielen
       Fällen sind wir dafür auf Spenden angewiesen.
       
       Manche Frauen können nach einer Rekonstruktion Nähe zulassen, andere nicht.
       Und viele Frauen wollen auch gar keine Operation – weil sie Angst davor
       haben oder weil es letztlich auch ein Aufbegehren gegen die eigene Kultur
       und die Familie im Heimatland ist. Aber wenn sie sich dafür entscheiden,
       höre ich nach der Operation oft, dass sich die Frauen viel wohler in ihrem
       Körper fühlen, viel weiblicher.
       
       4 Jan 2021
       
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