# taz.de -- Palästinenser warten auf Immunisierung: Impfvorreiter Israel in der Kritik
       
       > Israel impft im Rekordtempo, Palästinenser*innen warten noch auf ihre
       > Dosen. Die Frage, wer die Ungleichheit verantwortet, sorgt für
       > Kontroversen.
       
 (IMG) Bild: Diskriminierung? Israelis werden geimpft, ein Großteil der Palästinenser*innen nicht
       
       BERLIN taz | Impfweltmeister oder Apartheidstaat? Die Erfolgsmeldungen über
       [1][Israels Covid-Impfkampagne] sorgen international für eine hitzige
       Debatte. Viele bewundern das Land, nachdem die Regierung von Benjamin
       Netanjahu in Windeseile mehr als ein Zehntel der Bevölkerung hat impfen
       lassen. Kritiker*innen aber werfen ein, dass die Palästinenser*innen in den
       von Israel besetzten Gebieten ausgeschlossen seien – also mehr als vier
       Millionen Menschen.
       
       Zunächst: Impfweltmeister bleibt Israel auch, wenn die Palästinenser*innen
       im Westjordanland und im Gazastreifen in die Rechnung einfließen. Nach
       [2][Regierungsangaben] haben bereits rund 1,5 Millionen Menschen in Israel
       eine erste Impfdosis erhalten. Je nach Berechnung sind das zwischen 10 und
       gut 16 Prozent der in Israel beziehungsweise in Israel und den
       palästinensischen Gebieten lebenden Menschen. So oder so liegt das Land
       damit weltweit [3][mit weitem Abstand vorn].
       
       Fakt ist aber auch, dass es fast ausschließlich Israelis sind, die ihren
       Ärmel hochkrempeln dürfen. Die Palästinenser*innen im Westjordanland und
       Gaza müssen auf den Impf-Beginn noch warten – voraussichtlich noch
       wochenlang. Am Dienstag [4][teilte das palästinensische
       Gesundheitsministerium] mit, man rechne erst im Februar mit ersten
       Impfdosen.
       
       Am stärksten ist der Kontrast damit im Falle der völkerrechtlich illegalen
       israelischen Siedlungen im Westjordanland. Hier leben israelische
       Staatsbürger*innen, die Zugang zu Impfungen haben, und Palästinenser*innen
       ohne Aussicht auf eine Spritze in unmittelbarer Nachbarschaft.
       
       ## Schwere Vorwürfe von Amnesty und HRW
       
       Wird also ein erheblicher Teil der Einwohner*innen diskriminiert? Amnesty
       International [5][forderte] am Mittwoch: „Die israelische Regierung muss
       aufhören, ihre internationalen Verpflichtungen als Besatzungsmacht zu
       ignorieren, und sicherstellen, dass die unter Besatzung lebenden
       Palästinenser (...) gleichberechtigt und fair mit COVID-19-Impfstoffen
       versorgt werden.“
       
       Auch für den Juristen Kenneth Roth, Geschäftsführer von Human Rights Watch,
       liegt ohne Frage eine „diskriminierende Behandlung“ vor, wie er auf Twitter
       [6][schrieb]. Eine Reihe von palästinensischen und israelischen
       Menschenrechtsorganisationen hatte in einem gemeinsamen [7][Statement]
       zuvor eine rechtliche Argumentation ausformuliert:
       
       „Artikel 56 der 4. Genfer Konvention sieht ausdrücklich vor, dass ein
       Besatzer die Pflicht hat, (...) ‚vorbeugende Maßnahmen zu treffen, die zur
       Bekämpfung der Ausbreitung ansteckender Krankheiten und Epidemien
       erforderlich sind‘. Diese Pflicht umfasst die Unterstützung des Kaufs und
       der Verteilung von Impfstoffen an die (...) palästinensische Bevölkerung.“ 
       
       Das jedoch sieht der israelische Jurist und Medienaktivist [8][Daniel
       Pomerantz] anders, das Gegenteil sei sogar der Fall: Israel dürfe sich
       rechtlich gesehen nicht in die palästinensische Impfstrategie einmischen,
       ohne dass die Führung in Ramallah darum bitte, erklärte er gegenüber der
       taz. Der Hintergrund: 1995 einigten sich Israelis und Palästinenser*innen
       darauf, dass die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) für die
       Gesundheitsversorgung verantwortlich ist.
       
       In [9][Annex III], Artikel 17, des Oslo-II-Abkommens heißt es:
       
       „Die palästinensische Seite wird (...) die gegenwärtigen Impfstandards für
       Palästinenser anwenden (...).“ 
       
       Und weiter:
       
       „Israel und die palästinensische Seite tauschen Informationen über
       Epidemien und ansteckende Krankheiten aus, arbeiten bei deren Bekämpfung
       zusammen und entwickeln Methoden für den Austausch von Krankenakten und
       Dokumenten.“ 
       
       ## Ramallah setzt auf russischen Impfstoff
       
       Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich gibt es durchaus, auch bei
       Covid-19-Tests, doch bei der Entwicklung einer Impfstrategie existiert sie
       nicht. Über eine offizielle Anfrage der PA an die israelische Regierung,
       Impfstoff auch für die besetzten Gebiete bereitzustellen, ist nichts
       bekannt. Auf eine taz-Anfrage antwortete das palästinensische
       Gesundheitsministerium nicht.
       
       „Rechtlich gesehen“, sagt Pomerantz, „hat die PA das Recht, diese
       Entscheidung zu treffen, und Israel darf sich darüber nicht hinwegsetzen.“
       Statt mit Israel zusammenzuarbeiten hat die PA in den vergangenen Wochen
       eine eigene Strategie verfolgt: Während Israel auf die teuren Impfstoffe
       von Pfizer/BioNTech und Moderna setzt, hat sich die Führung in Ramallah
       [10][eigenen Angaben zufolge] vor allem – aber nicht ausschließlich – um
       den russischen Impfstoff Sputnik V bemüht.
       
       Um Unterstützung hat sich die PA dabei bei der von der WHO ins Leben
       gerufenen Covax-Initiative beworben, mit der eine gerechte Verbreitung
       billiger Impfstoffe auch in ärmeren Ländern gefördert werden soll. Bislang
       ist aber noch kein Impfstoff in den palästinensischen Gebieten
       eingetroffen.
       
       Mit der eigenen Impfpolitik der PA wird die Lage noch etwas komplizierter.
       Denn der in Russland entwickelte Sputnik-Impfstoff ist in Israel nicht
       zugelassen. Ohne israelische Mitarbeit wird er aber kaum in die besetzten
       Gebiete gelangen, da Israel die Grenzen kontrolliert. „Israel kann keinen
       Impfstoff weiterleiten, der nicht für seine eigenen Bürger*innen zugelassen
       ist“, warnten deshalb die Menschenrechtsorganisationen in ihrem gemeinsamen
       Statement.
       
       ## Menschenrechtler*innen: Oslo spielt keine Rolle
       
       Die Zuständigkeit der PA wollen auf taz-Nachfrage indes weder die
       israelische Organisation Physicians for Human Rights (PHR) noch Amnesty
       International gelten lassen. Während die Oslo-Vereinbarung zwar das
       Gesundheitswesen an die PA übertragen habe, „hat das Ausmaß der Kontrolle
       Israels über den Verkehr von Menschen und Gütern, einschließlich
       Gesundheitspersonal, Patienten und medizinischer Ausrüstung, dazu geführt,
       dass diese Verantwortung hauptsächlich dem Namen nach besteht“, teilte
       PHR-Direktor Ran Goldstein am Mittwoch mit.
       
       Ähnlich argumentiert Amnesty International: „Das palästinensische
       Regierungssystem ist sehr begrenzt in Bezug auf das, was es kontrollieren
       kann und was nicht“, teilte Saleh Higazi, stellvertretender Nahostdirektor,
       der taz mit. Israel trage damit [11][weiterhin die Verantwortung] für das
       Recht der Palästinenser*innen auf Gesundheit, sind sich beide einig.
       
       „Durch die Entwicklung eines Impfprogramms, das eine ganze
       Bevölkerungsgruppe ignoriert, die unter seiner Kontrolle steht, hat Israel
       das System der institutionalisierten Diskriminierung weiter offengelegt“,
       sagt Higazi, „ein System, in dem einer Gruppe Rechte und Schutz gesetzlich
       gewährt werden, während einer anderen die gleichen Rechte und der gleiche
       Schutz ebenfalls gesetzlich verweigert werden.“
       
       Für die unter Besatzung lebenden Menschen ändern die rechtlichen
       Kontroversen wenig. Solange sich die PA nicht aktiv um eine Koordinierung
       bemüht und die israelische Regierung sich nicht verantwortlich fühlt,
       werden sie in den nächsten Wochen wohl keinen der möglichen Impfstoffe
       erhalten, während zumindest ein Teil der Siedler*innen in direkter
       Nachbarschaft schon bald immun sein dürfte gegen das Coronavirus.
       
       7 Jan 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Israel-bei-Corona-Impfungen-vorn/!5741145
 (DIR) [2] https://www.timesofisrael.com/workers-at-netanyahus-office-jump-line-for-covid-vaccines/
 (DIR) [3] https://ourworldindata.org/covid-vaccinations
 (DIR) [4] https://www.alalamtv.net/news/5371956/%D8%A7%D9%84%D8%B5%D8%AD%D8%A9-%D8%A7%D9%84%D9%81%D9%84%D8%B3%D8%B7%D9%8A%D9%86%D9%8A%D8%A9-%D9%84%D9%82%D8%A7%D8%AD%D8%A7%D8%AA-%D9%83%D9%88%D8%B1%D9%88%D9%86%D8%A7-%D8%B3%D8%AA%D8%B5%D9%84-%D8%A7%D9%84%D8%B4%D9%87%D8%B1-%D8%A7%D9%84%D9%85%D9%82%D8%A8%D9%84
 (DIR) [5] https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/01/denying-covid19-vaccines-to-palestinians-exposes-israels-institutionalized-discrimination/
 (DIR) [6] https://twitter.com/KenRoth/status/1345501594654277634?s=20
 (DIR) [7] https://reliefweb.int/report/occupied-palestinian-territory/joint-statement-10-israeli-palestinian-and-international
 (DIR) [8] https://twitter.com/danielspeaksup?lang=de
 (DIR) [9] https://mfa.gov.il/mfa/foreignpolicy/peace/guide/pages/the%20israeli-palestinian%20interim%20agreement%20-%20annex%20iii.aspx#app-17
 (DIR) [10] https://english.wafa.ps/Pages/Details/122439
 (DIR) [11] https://twitter.com/S_jazi/status/1346802154716213249?s=20
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jannis Hagmann
       
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