# taz.de -- Der Hausbesuch: Der Idealist
       
       > Henning Beinert lebt mit Ingrid in einem Fachwerkhaus im Weserbergland.
       > Die Kinder sind aus dem Haus, nun genießen sie ihre Zweisamkeit.
       
 (IMG) Bild: Henning Beinert in der Wohnküche seines Fachwerkhauses
       
       Henning Beinert wollte einst die Welt verändern, doch dann kam ihm das
       Leben dazwischen.
       
       Draußen: Ein kleines Fachwerkhaus am Ende einer abschüssigen Straße.
       Früher, erzählt er, sausten Kinder auf Rollschuhen da runter. Die
       Wahlheimat von Henning Beinert ist seit 37 Jahren Salzhemmendorf im
       Weserbergland. Etwa 9.000 Menschen leben hier inmitten von Wiesen und Wald.
       
       Drinnen: Im Flur stapeln sich Schuhe, auch die noch von den Kindern. An der
       Wand hängen, mit Stecknadeln festgemacht, Fotos der Großfamilie. Einige
       Bilder sind vergilbt, andere frisch dazugekommen, einige Partner der Kinder
       sind aktuell, andere passé. In der Wohnküche passt nichts zusammen und doch
       alles. Er hat sie selbst eingebaut. Der große Specksteinofen heizt das
       ganze Haus, jeden Dienstag backt er darin Brot. „Endlich wieder
       Henning-Brot“, schwärmen Freunde und Familie, wenn sie dann vorbeikommen.
       
       Republikflucht: 1954 in Magdeburg, er ist 6 Jahre alt, als der Vater, der
       sich der Verstaatlichung seiner Fleischerei widersetzt, einen Anruf erhält:
       „Morgen kommen sie, um dich zu verhaften“, warnt ein Freund. Panisch packen
       die Eltern zwei Taschen und setzen sich mit ihm und Schwester Ulrike in den
       Zug, nur weg. Die Familie lässt sich in einem Dorf auf der Schwäbischen Alb
       nieder. Dort hat der Vater einen Freund, der ihm eine Stelle als Fleischer
       organisiert, die Mutter geht putzen. „Meine Eltern dachten, die Menschen
       würden englisch sprechen, weil wir kein Wort verstanden.“
       
       Love and Peace: In der Lehre zum Speditionskaufmann lernt er seine erste
       große Liebe Gabriele kennen. Sie kündigt den Job als Stenotypistin,
       gemeinsam mit einem Freund reist das Paar mit einem VW-Bus nach Spanien,
       probiert das [1][Hippie-Leben]. Als es im Winter zu kalt wird, verkauft das
       Paar den Bus für 1.000 Mark an den Freund, reist mit dem Schiff nach Gran
       Canaria, lebt mit Hippies in einer Höhle. „Wir wollten Love and Peace
       ausprobieren, frei sein, ohne Verpflichtungen.“ Abends am Feuer sitzen,
       Musik machen, Fisch braten, das sei schön gewesen.
       
       Die unschönen Seiten: Doch Hippie war nicht gleich Hippie: „Da waren auch
       verzweifelte Existenzen unterwegs, nachts wurde viel geklaut.“ Das Fazit,
       als nach vier Monaten das Geld alle war: „Diese Art zu leben, das waren wir
       nicht. Wir wollten das Abitur nachmachen, studieren, mitgestalten, statt
       rumzuhängen.“
       
       Berlin: Sie gehen nach Berlin, teilen sich erst ein WG-Zimmer, dann eine
       kleine Hinterhofwohnung. Das Paar gehört 1969 zum ersten Jahrgang, der an
       der Abendschule das Abitur nachmachen kann. Die Nächte sind kurz, bis 22
       Uhr geht der Unterricht, danach wird in Kneipen über Politik diskutiert.
       Aus den Abendschülern entwickelt sich eine Samstagsgruppe, in der viel über
       Kommunen auf dem Land geredet wird. „Der Radius in Westberlin war klein,
       wir fühlten uns eingesperrt.“
       
       Erst mal durchhalten: Mit Freunden gründet er einen fahrbaren Mittagstisch,
       wo er bis zu 500 Essen pro Tag kocht und ausfährt. 77 kommt die erste, 79
       die zweite Tochter zur Welt. Er besteht das Abitur, verkauft den
       Mittagstisch, beginnt ein Philosophie- und Theaterwissenschaftsstudium an
       der Freien Universität. Gemeinsam mit anderen Eltern gründet er einen
       [2][Kinderladen]. Gabriele verliebt sich in den Erzieher, trennt sich, hat
       das Gefühl, etwas nachholen zu müssen. Die Mädchen bleiben bei ihm. Er ist
       alleinerziehend, büffelt nachts für den Taxischein, an Vorlesungen ist kaum
       zu denken.
       
       Neue Liebe: Herbst 1980. Ihm wächst alles über den Kopf. Er ist erschöpft,
       muss für vier Wochen ins Krankenhaus. Wieder auf den Beinen, will er
       endlich etwas für sich tun. Er geht zu einer Theatergruppe. Dort trifft er
       Ingrid, die junge Frau mit dem langem Mantel, den dicken Zöpfen. „Die war
       nicht 08/15, sie fiel mir gleich auf.“ Ein Jahr später sind sie ein Paar.
       Doch kann das klappen, er, Anfang 30, alleinerziehend, sie, die 22-jährige
       Studentin, die Berlin entdecken will? Sie wollen es versuchen. Beide
       schmeißen die Uni hin, zu theoretisch.
       
       Aufbruch: Er will endlich weg. In der [3][Zeitschrift Grüne Kraft] sucht er
       nach Landkommunen. Reist mit den Töchtern durch Deutschland, wohnt Probe,
       nichts passt. Dann endlich: Eine Wassermühle südlich von Hannover mit zwei
       anderen Familien, die Chemie stimmt. Auch für Ingrid. Zwei Jahre lang leben
       sie ihren Traum, dann will der Vermieter sie loswerden, die Wege trennen
       sich. „Das war für uns alle damals eine Zwischenstation.“
       
       Das Fachwerkhaus: In Salzhemmendorf entdeckt er das Fachwerkhaus. 40.000
       Mark soll es kosten, es werden Ersparnisse zusammengekratzt, Eltern
       angepumpt. Er schuftet, das Haus muss komplett saniert werden. Im
       Erdgeschoss hebt er den Boden aus, im ersten Stock reicht das Geld nicht
       mehr. Er selbst kann dort nicht stehen. „Eigentlich habe ich immer eine
       Beule am Kopf, weil ich ständig gegen die Balken laufe.“ Wieder ist er am
       Limit. „Für mich hatte ich keine Zeit mehr. Aber ich wollte auch nichts.
       Ich bin jemand, der sich in Situationen einfügt, wenn etwas so ist, dann
       ist es so.“
       
       Kinder: Ingrid wächst in die Mutterrolle hinein, gewinnt das Vertrauen der
       Mädchen. „Weil sie nichts erzwungen hat.“ Sie bekommen noch drei gemeinsame
       Kinder, alles Jungs. Sieben Personen auf 140 qm, ein Bad. Lange Zeit gibt
       es weder Fernseher noch Telefon. Sie arbeitet, er kümmert sich um die
       Kinder, das 2.000 qm große Grundstück, den Haushalt, den Garten, das
       Gemüse, die Obstbäume, die Hühner, die Katze, die Ziegen, das Pony. Das
       Grundstück führt bis hoch zum Knübel, dem höchsten Berg im Dorf. Die
       Aussicht ist gigantisch.
       
       Der Neubau:Das kleine Häuschen wird zum Treffpunkt für Kinder aus der
       ganzen Straße. Um der Situation Herr zu werden, entsteht im Garten der
       „Neubau“, ein Häuschen, in dem die Kinder auch bei schlechtem Wetter
       spielen, kickern, Billard spielen, Partys feiern können. Neubau heißt das
       Haus auch nach 30 Jahren noch. Heute repariert er hier alte Fahrräder, die
       er an Flüchtlinge verschenkt.
       
       Glück: Er ist glücklich, dass er sein Leben den Kindern gewidmet hat. „Ich
       bin sehr stolz auf alle fünf.“ Noch heute lässt er für die Kinder alles
       stehen, fährt mal zum Babysitten nach Zürich, wenn Not am Mann ist, zeltet
       mit den Enkelkindern im Garten, hat unzählige Torten gebacken,
       Kindergeburtstage ausgerichtet, Umzüge mitgemacht.
       
       Der Wermutstropfen: Den nachhaltigen Lebensstil der Eltern allerdings
       teilen die Kinder eher nicht. „Da wundere ich mich manchmal, dass so wenig
       hängen geblieben ist, ob wir irgendwas falsch gemacht haben.“ Einer der
       Söhne lebt in Kanada. „Das ist hart für uns, denn wir fliegen nicht und
       sehen ihn dadurch nur sehr selten.“ Eine große Reise durch British Columbia
       haben ihnen die Kinder jedoch geschenkt. „Das war toll, wird aber eine
       Ausnahme bleiben.“
       
       Alltag: Er will eine Pause machen, um 13.30 Uhr kommt Ingrid von der
       Arbeit, da soll das Essen auf dem Tisch stehen. Wildschweinkeule. „So was
       haben wir nicht alle Tage, aber im Nachbardorf wurde gerade geschlachtet.“
       Dazu Spätzle. Jeden Tag steht er um sieben Uhr in der Früh auf, versorgt
       die Tiere, mistet aus, dann macht er eine halbe Stunde Gymnastik. Wenn
       nicht gerade [4][Corona] ist, kocht er dreimal in der Woche mit den
       Schülerinnen einer freien Schule als Lernbegleiter, leitet eine
       Mountainbike-AG, trainiert mehrere Volleyballmannschaften. Heilig ist ihm
       sein Mittagsschlaf.
       
       Politik: Eigentlich bereut er nichts. Allein „der Umzug aufs Land, das war
       ein Stück weit ein Rückzug ins Private, dadurch habe ich das große Ganze
       aus den Augen verloren“. Die Möglichkeiten, sich nach seinem Gusto
       politisch zu engagieren, seien begrenzt. „Es gibt eine Amnesty-Gruppe in
       Hameln, aber das ist auch nicht um die Ecke.“ Er versucht, sich durch
       gesellschaftliches Engagement einzubringen, gründet eine Ortsgruppe des
       BUND. An die Zeit, die er für die Grünen im Ortsrat saß, hat er keine guten
       Erinnerungen: „Dieses Taktieren. Eigentlich war immer vorher klar, wofür
       man die Hand heben musste, das hat mir schnell gereicht.“
       
       Geld: Ist knapp. Zum Glück sei er erfinderisch. Mehrere Sommer arbeitet er
       im Ostseebad Prerow an einer Ferienanlage mit, dafür darf die Familie
       kostenlos dort Urlaub machen. Mit dem roten Hanomag, einem Feuerwehrbus,
       Baujahr 1966, der die Familie seit Ewigkeiten begleitet, bereisen sie
       Europa. In den letzten Jahren sind sie vor allem mit dem Rad unterwegs. „Es
       war immer prekär, aber es ging immer irgendwie weiter.“ Wenn er eines Tages
       seine Jobs aufgibt, wird es noch enger. Oft helfen die Kinder, sie wollen
       etwas zurückgeben.
       
       Zu zweit: Seit zwei Jahren sind sie allein im Haus. „Erst war es komisch,
       jetzt genießen wir die Zweisamkeit.“ Er spielt Klarinette, liest, baut
       seine alte Modelleisenbahn wieder auf. „Im Moment gucken wir erstaunlich
       viele Filme, Händchen haltend, wie früher. Das ist schön.“
       
       16 May 2021
       
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