# taz.de -- Corona, die Literatur und der Alltag: Alles ist entgrenzt – fast alles
       
       > Pausenbrot für den halben Schultag schmieren und gleichzeitig Texte
       > redigieren. Alltag in der Pandemie heißt vor allem: Radikal ohne Grenzen.
       
 (IMG) Bild: Konferieren vom Wohnzimmer aus: In der Pandemie ist der Alltag fluide geworden
       
       Zurzeit muss ich öfter an meinen Professor damals in Leipzig denken. Als
       einer der führenden Erforscher und Verfechter der Postmoderne drapierte er
       sich gern in seinem beigen Leinenanzug ans Pult, blickte uns herausfordernd
       an und schleuderte uns [1][ein Zitat von Derrida] entgegen: „Il n’ya pas de
       hors-texte“, es gibt kein Außerhalb des Textes. Darüber sollten wir dann
       bis zum nächsten Seminar nachdenken.
       
       Fürs theoretisch-philosophische Denken nicht überbegabt, machten mich
       solche Aufgaben manchmal neugierig, meist aber hilflos oder sogar wütend:
       pas de hors-texte – was sollte das denn heißen? Dass alles bloß Text war,
       die ganze Welt? Aber war dann nicht alles unterschiedslos, bedeutungslos,
       ein einziger Brei?
       
       Das, klärte uns der Professor später auf, sei eine verbreitete
       Fehlrezeption von Derrida. Dieser habe gemeint, dass alles um uns herum zum
       Text beiträgt – ein Gedanke, der eine radikale Entgrenzung der Konzepte der
       Moderne bedeutet: Wissen, Macht, Normen – der Kontext wird instabil, die
       Bedeutung verändert sich fortwährend, der Text endet nie. Radikal
       entgrenzt: Was beschriebe besser den Alltag in der Pandemie?
       
       Arbeit ist Wohnen ist Schule ist Alltag ist Nachrichtenkonsum; während der
       Mann nebenan Codes schreibt – eine spezielle Textform, die nur Eingeweihten
       zugänglich ist–, schreibe ich diesen Text stehend im Wohnzimmer und
       versuche auszublenden, dass aus dem Zimmer des Sohnes zur Unzeit gedämpfte
       „Minecraft“- Spielgeräusche dringen. Was will man auch erwarten, wenn die
       Rumpfschule erst um elf anfängt.
       
       Der Tagesablauf ist ebenso fluide geworden wie die Grenzen zwischen privat
       und beruflich: Ich frühstücke in der Zoom-Konferenz, bespreche Texte und
       Projekte beim Spazierengehen und schmiere, während ich redigiere, das
       Pausenbrot für den halben Schultag. Alles ist digital: Die Verwandtschaft
       wird per Skype ins Wohnzimmer zugeschaltet, die Pilateslehrerin gibt von
       irgendwo aus NRW die Anweisung, den Rücken gleichmäßig abzurollen, und
       einmal die Woche klicke ich mich abends in die Küche eines Ingenieurs aus
       Parma, der in gebrochenem Deutsch vom Leben in der zona arancione
       berichtet, während ich in ebenso gebrochenem Italienisch versuche, ihm das
       Klischee vom effizienten Deutschland auszutreiben. Denn das beschreibt
       schon lange nicht mehr die Wirklichkeit.
       
       ## Chips in der Online-Englischstunde
       
       Wir sind vernünftig? Ich sage nur Coronaleugnerdemos. Wir sind nicht
       korrupt? Ich sage nur CSU und Nüßlein oder CDU und Amthor. Na gut, sagt er,
       aber wenigstens habt ihr eine kompetente Regierung. Ich sage Mautdesaster –
       und erzähle ihm, dass sich [2][in den Impfzentren unseres Landes] die
       Vakzine nur so stapeln, weil unsere staatliche Infrastruktur überfordert
       ist. Denn nicht „alles“ ist digital – während die Deutschen im Alltag einen
       nie gekannten Digitalisierungsschub erfahren, herrscht in der Verwaltung
       noch Analogzeitalter pur.
       
       Mein italienischer Gesprächspartner lacht über die Geschichte, wie meine
       Eltern, beide über 80, letzte Woche endlich den Anruf bekamen und zum
       Impfzentrum in die Kreisstadt fuhren. Dort aber fand man zunächst ihre
       Namen nicht, er war in dem riesigen Zettelwirrwarr am Empfang irgendwo
       falsch einsortiert. Handgeschriebene Impfzettel! „So viel zu ‚Vorsprung
       durch Technik‘ “ sage ich grimmig, und da sieht er sich genötigt, mich zu
       trösten: Auch bei ihnen laufe es nicht so gut.
       
       Obwohl die italienische Regierung diese Woche beherzt den Export von
       AstraZeneca-Impfstoff (also dem Zeug, das zuerst für Ältere nicht infrage
       kommen sollte und jetzt doch und komischerweise überallhin in zu geringen
       Mengen geliefert wird, außer nach Großbritannien) nach Australien gestoppt
       hat, glaubt er nicht daran, dass „Super-Mario“ die Pandemie stoppen kann.
       Besonders nicht bei den frühlingshaften Temperaturen. „Alle draußen, alle
       beieinander – Italien!“, ruft er und illustriert mit Luftküsschen den
       vermeintlich mediterranen Leichtsinn seiner Landsleute.
       
       Als ob es hier nicht genauso wäre: Bei meinen endlosen Wanderungen durch
       den Berliner Stadtraum sehe ich Trauben von jungen Menschen, die mit
       aufblasbaren Sitzsofas, Shishas und riesigen Boomboxen den Park zum Club
       machen und den digital allgegenwärtigen Virologen ganz analog den
       Mittelfinger zeigen. Würde ich vielleicht auch machen, wenn ich Mitte
       zwanzig wäre.
       
       In meinem Lebensalter fällt es mir gar nicht mal so schwer, mich in dem
       neuen, digital entgrenzen Alltag einzurichten. Den Kindern übrigens noch
       weniger: Neulich erwischte ich die Tochter, wie sie, genüsslich in eine
       Schale Chips greifend, die Online-Englischstunde vorbeirauschen ließ,
       während sie mit der anderen Hand irgendwelche Zombies abknallte. Die
       Nachricht, dass ab kommende Woche wieder Schule ist, und zwar ab 8.15 Uhr,
       kommentierte sie entgeistert mit: „Warum das denn?!“
       
       6 Mar 2021
       
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