# taz.de -- Der Hausbesuch: Einer, der Action will und Ruhe
       
       > Für Fionn Ziegler lief es nicht gut in der Schule. Erst als er einen
       > Lehrer traf, der ihn förderte, begann er, an sich zu glauben.
       
 (IMG) Bild: Fionn Ziegler in seiner Altbauwohnung im Lüneburger Stadtteil Rotes Feld
       
       Schon zweimal in seinem Leben ist er über einen Fahrradlenker geflogen –
       zwei einschneidende Erlebnisse. Zu Besuch bei Fionn Ziegler in Lüneburg.
       
       Draußen: Die Feldstraße liegt in dem Lüneburger Stadtteil Rotes Feld,
       südlich der Altstadt, „bevorzugte Wohngegend“. Die Häuser stammen vor allem
       aus der Gründerzeit, auch Fionn Zieglers Wohnung liegt im ersten Stock
       einer imposanten weißen Jugendstilvilla. Man kennt sich, viele Nachbarn
       sind in der Whatsapp-Gruppe „Leihen und Teilen Rotes Feld“.
       
       Drinnen: Ein lichtdurchfluteter Altbau, schöner Dielenboden und ein
       großzügiger Balkon, auf dem es sich im Sommer herrlich frühstücken lässt.
       Er hat Glück, als er nach einer Trennung Hals über Kopf bei einem Freund
       einziehen kann. Andere beenden ihre WG-Karriere mit Anfang 30, für ihn geht
       sie da erst los. „Ich hätte nie gedacht, dass WG so entspannt sein kann.“
       Im Wohnzimmer liegen Kartenspiele auf dem Tisch, eine Gitarre liegt auf dem
       Sofa, mit Tutorials bringt er sich selbst das Spielen bei. Gerade übt er am
       Intro von „Streets of London“ von Ralph McTell. In den Regalen etliche
       Reiseführer. Unzählige Gewürze in der Wohnküche, selbst etikettiert. Hier
       wird viel gekocht, vegan.
       
       Der Unfall: Die erste Kindheitserinnerung, die er hat, ist sein schwerer
       Fahrradunfall mit vier Jahren. „Wir sind ins Nachbardorf gefahren, bergab,
       das war damals noch eine Schotterpiste. Ich bin Vollgas meinem großen
       Bruder hinterher und in ein Schlagloch gefahren.“ Er kommt ins Schleudern,
       kann den Lenker nicht halten, fliegt darüber. Ein Krankenwagen holt ihn ab.
       Der Lenker hatte sich tief in seinen Magen gebohrt, ein Stück des Dünndarms
       wird zerstört und muss entfernt werden. Er zeigt eine große Narbe, etwa 20
       cm lang. „Die ist mitgewachsen.“ Vier Wochen liegt er im Krankenhaus. „Für
       meine Familie war das schlimm, ich erinnere mich vor allem an viel Besuch,
       Geschenke und Süßigkeiten.“
       
       Schule: Die Erinnerungen an das liebevolle Elternhaus und den oft
       turbulenten Alltag mit vier Geschwistern in der niedersächsischen Provinz
       sind positiv, die an die Schule weniger. „Das war für mich nur Zeit
       absitzen.“ Von klein auf tüftelt er gerne, repariert elektrische Geräte.
       Doch für sein technisches Verständnis ist in der Schule kein Raum. Er geht
       auf die Hauptschule. Er will Französisch oder Spanisch lernen, doch für
       Hauptschüler ist das nicht vorgesehen. „Im Nachhinein würde ich gerne
       wissen, wie es auf einer Freien Schule oder einer Waldorfschule gelaufen
       wäre.“
       
       Wildheit: Mit 13 klaut er seinem Schlagzeuglehrer Gras, beim Versuch, es in
       der Schule zu verkaufen, wird er erwischt. Mit 14 wacht er nach zu viel
       Wodka nachts auf einer großen Straße auf, der Vater muss ihn aus dem
       Krankenhaus abholen. „Ich habe viel Scheiße gebaut.“
       
       Der neue Lehrer: In der neunten Klasse macht es mit einem neuen Lehrer
       klick: „Der hat mich motiviert, Junge, wenn du dich jetzt anstrengst,
       kannst du deinen Realschulabschluss machen, vielleicht sogar einen
       erweiterten.“ Jetzt gibt es auch ein Ziel: Informatiker werden. „Beim
       Sommerurlaub in Portugal haben mir meine Cousins beigebracht, wie man einen
       kleinen Taschenrechner programmiert, das hat mich nicht mehr losgelassen.“
       An einer weiterführenden Schule macht er eine zweijährige Ausbildung zum
       Fachinformatiker, ihm wird großes Talent attestiert. Er hängt noch eine
       betriebliche Ausbildung bei einem Softwareentwickler in Würzburg dran.
       
       Bewegung: Wie das Klischee des Computernerds sieht er nicht aus. Er ist
       1,94 Meter groß, breitschultrig und muskulös. Manchmal weiß er nicht, wohin
       mit seiner Kraft, dann muss er raus, Hauptsache Bewegung. Viele Jahre
       spielt er Volleyball. Heute joggt er, macht täglich Yoga.
       
       Weltwärts: Nach der Ausbildung will der 23-Jährige raus, die Welt sehen,
       weg vom Bildschirm. „Was mit den Händen machen.“ Er bewirbt sich um einen
       Job in einem Freiwilligenprogramm, geht für ein Jahr in die Dominikanische
       Republik, um in einem Rehazentrum für behinderte Kinder zu arbeiten. Bei
       einer Gastfamilie lebt er in einer kleinen Hütte, keine Dusche, Strom nur
       ab und an. Begeistert erzählt er von den kleinen Gastgeschwistern,
       gemeinsamen Ausflügen, der wunderschönen Natur.
       
       Die Arbeit ist ernüchternd: „Wir bekamen keine Aufgaben, das hatte was von
       Abenteuerurlaub auf Staatskosten.“ Zwei Monate weiß er nicht, wohin mit
       sich. Dann eben doch wieder der Bildschirm. Er startet einen Spendenaufruf
       in seiner Heimatzeitung: Funktionsfähige Computer gesucht. 20 Geräte kommen
       zusammen, ein leistungsstarker Server. Wochen später beginnt er mit den
       Geräten, Kinder mit Lernspielen zu unterrichten. Eine Arbeit, die ihn
       erfüllt.
       
       Die Naturkatastrophe: Er ist etwa ein halbes Jahr in Santa Domingo, als
       sich 2010 in Haiti das schwerste Erdbeben Nord- und Südamerikas ereignet.
       Viele Hilfsorganisationen entsenden Freiwillige zum Wiederaufbau, er geht
       mit. Eine Grenzerfahrung: Er schläft in einem Massenlager, nachts wackelt
       die Erde. „Ich bin immer wieder mit einer Riesenangst aufgewacht.“ Die
       Freiwilligen bauen Holzhütten für Familien. Fundament, Pfähle einbuddeln,
       Wände, das Dach. Zweimal reist er nach Haiti.„Ich habe mich oft schlecht
       gefühlt. ‚Schuldig‘ ist vielleicht das falsche Wort, aber so privilegiert
       aus dem Bus rauszugucken und all das Elend zu sehen tat weh.“
       
       Karriere: Als er zurück in Würzburg ist, lässt ihn die Weite der Welt nicht
       mehr los. Deutscher Softwareentwickler in New York gesucht, liest er auf
       Twitter. Er bewirbt sich, bekommt den Job. „Wenige Wochen später war ich im
       Flieger.“ Er bezieht ein Büro im 30. Stock, direkt am Broadway. Da ist er
       24. „Das war so surreal. Ich, der Junge vom Dorf, hatte plötzlich ein Büro
       mit Blick auf den Central Park.“ Er lebt sich ein, knüpft Kontakte
       außerhalb der Arbeit, genießt das Big City Life. Doch es nutzt sich schnell
       ab: Die Nachbarn nicht kennen, das Pendeln mit Menschenmassen in der Bahn,
       das ständige Sirenengeheul, das Leben für die Arbeit. „Das war ich nicht.“
       
       Zurück: Er geht wieder nach Deutschland, jetzt Hamburg. Eine große Wohnung
       nahe der Alster. Als Programmierer verdient er viel Geld und gibt es gerne
       aus, für ein gutes Leben, teure Klamotten, durchfeierte Nächte, Reisen.
       „Ich habe gemacht, worauf ich Bock hatte. Meine Familie musste immer aufs
       Geld achten, ich hatte es plötzlich.“ Der Einkauf im Bioladen gehört dazu.
       Weil es sich richtig anfühlt und weil er es sich leisten kann.
       
       Kurswechsel: Das Thema Nachhaltigkeit wird immer präsenter, er beginnt
       seinen Lebensstil zu hinterfragen. Kann er zur Anti-Palmöl-Demo nach Berlin
       fahren und gleichzeitig für einen Job nach San Francisco fliegen? Wegen des
       Studiums seiner Freundin zieht das Paar nach Lüneburg. Als die Beziehung
       nach einigen Jahren auseinandergeht, zieht sie zurück. Er bleibt, engagiert
       sich ehrenamtlich bei einer solidarischen Landwirtschaft, hat das Gefühl,
       angekommen zu sein. Den Job als Programmierer beendet er, steigt mit einer
       halben Stelle bei der Gemüsegenossenschaft im IT-Bereich ein. Er steht
       immer öfter selbst im Garten, auch am Wochenende, fährt Gemüse aus. Die
       Arbeit setzt ihm körperlich zu. Es häufen sich Überstunden. „Ich habe
       einfach zu allem Ja gesagt und nicht die Warnsignale meines Körpers
       gehört.“
       
       Der Unfall: Ein Sonntagnachmittag im Sommer, er ist mit dem Fahrrad auf dem
       Weg nach Hause. Bergab, voll Speed. Er fährt in ein Schlagloch, fliegt über
       den Lenker. Wieder landet er im Krankenhaus, kommt aber dieses Mal mit dem
       Schock davon: Das Gesicht voller Schürfwunden, es bleibt eine zwei
       Zentimeter lange Narbe. Zwei Wochen ist er krankgeschrieben, schläft
       schlecht, hat mit Schwindel zu kämpfen. Der Unfall sei ein Warnschuss
       gewesen. „Das fühlte sich alles nach Burn-out an.“ Er kündigt, wandert von
       Lüneburg aus in alle Himmelsrichtungen. Inzwischen immer an seiner Seite:
       Gemüsegärtnerin Natalie, die er bei der Arbeit kennengelernt hat.
       
       Warten: Monatelang tut ihm die Coronapause gut, endlich Ruhe. Doch jetzt
       scharrt er mit den Füßen, Natalie und er wollen weg, „Am liebsten mit dem
       Schiff nach Neuseeland und dann weiterschauen. Wenn das wegen Corona nicht
       geht, den Jakobsweg wandern.“ Und dann? „Ein Tiny House mit einem großen
       Garten, das ist gerade unser Traum.“
       
       4 Apr 2021
       
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 (DIR) Lea Schulze
       
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       Paula Yacomuzzi ist von Buenos Aires über Barcelona nach Berlin gezogen.
       Hier gibt sie ein Magazin heraus für die spanischsprachige Community.