# taz.de -- Psychiaterin über neues Kinderheim: „Geschlossenheit schafft Probleme“
       
       > Hamburg plant ein teilweise geschlossenes Heim, das Jugendhilfe und
       > -psychiatrie gemeinsam betreiben. Die Psychiaterin Charlotte Köttgen
       > warnt davor.
       
 (IMG) Bild: Sündenfall der Hamburger Jugendpolitik: die Heime der privaten Haasenburg-GmbH in Brandenburg
       
       taz: Frau Köttgen, Hamburg plant [1][eine neue Einrichtung] für Kinder
       zwischen Jugendhilfe und Psychiatrie. Was wissen Sie über die Pläne? 
       
       Charlotte Köttgen: Ich kenne eine Konzeption aus 2020. Da geht es um acht-
       bis zwölfjährige Kinder, die in eine Einrichtung sollen, die am
       Klotzenmoorstieg schon existiert und dafür umgebaut wird. Kinder mit
       seelischen Problemen, die pädagogischen Bedarf haben, würden dort in einem
       Stufenmodell betreut.
       
       Was ist unter Stufenmodell zu verstehen? 
       
       Solche Modelle wurden zum Beispiel in der Haasenburg und im Friesenhof
       angewendet, über die ja auch die taz berichtete. Die arbeiten nach einem
       Modell, das für manche Kinder kaum zu schaffen ist. Die Stufen, die sind
       für manche gut zu erreichen, aber für andere Kinder gar nicht. Die werden
       eher noch mehr demoralisiert und fühlen sich entwertet und leiden.
       
       Warum sollten Psychiatrie und Jugendhilfe nicht zusammen ein Heim
       betreiben? 
       
       Meine Kritik richtet sich nicht gegen Zusammenarbeit. Ich kritisiere, dass
       hier Kinder mit sozialen und psychischen Problemen in eine geschlossene
       psychiatrische Einrichtung der Jugendhilfe sollen. Die Jugendpsychiatrie
       wurde in Hamburg zuletzt extrem ausgebaut. Deshalb sollten solche Kinder
       auch dort behandelt werden.
       
       Wie stark ausgebaut? 
       
       Hamburg lag 2017 bei einem Bundesvergleich der psychiatrischen Betten
       gleich hinter den neuen Ländern an der Spitze. Es hat 9,8 Betten pro
       100.000 Einwohner, Berlin nur sechs. Also mehr als ein Drittel mehr als in
       anderen Stadtstaaten. Die Einweisungen in die Jugendpsychiatrie haben sich
       seit 2000 mehr als verdoppelt. Da frage ich mich, weshalb jetzt Kinder mit
       psychischen Problemen in eine Einrichtung der Jugendhilfe sollen, die von
       der Psychiatrie mitbetreut wird? Das müsste Aufgabe der Psychiatrie in
       ihren Einrichtungen sein.
       
       Wie kam es zum Anstieg? 
       
       So ein Ausbau wird in allen Bereichen vorangetrieben, auch in der
       Jugendhilfe. Es geht um mehr Institution und Stellen.
       
       Kritiker warnten jüngst vor [2][Pathologisierung der Kinder]. 
       
       Das ist ein großes Thema. Wir wissen, dass in den letzten 20 Jahren zweimal
       neue Diagnosekataloge erstellt wurden, die mit den Krankenkassen
       abrechenbar sind. Dort sind heute weit mehr Diagnosen aufgelistet, als es
       früher gab. Darunter sind Störungen, die ich gar nicht als Krankheiten
       bezeichnen würde. Zum Beispiel lange Trauer nach einem Trauerfall oder
       aggressiv zu sein. Definiert man immer mehr Befindlichkeiten und Eigenarten
       von Kindern, die auch Schwierigkeiten machen können, zu Krankheiten, dann
       gibt es auch mehr Behandlungsbedarf. Ich weiß gar nicht, warum es so viel
       mehr psychisch kranke Kinder geben soll? Zumal auch die Medizin nicht von
       Krankheiten, sondern Störungen spricht. Die Frage ist: Müssen solche
       Störungen in stationären Einrichtungen der Psychiatrie behandelt werden?
       Oder gäbe es andere Formen, dass man zum Beispiel in der Jugendhilfe
       versucht, eine bessere Lebenssituation zu schaffen oder stützende
       Bezugspersonen findet, damit die Kinder die Bedingungen bekommen, die ihnen
       die bestmöglichen Entwicklungsperspektiven öffnen.
       
       Gibt es dafür Beispiele? 
       
       Ich habe lange in der Jugendpsychiatrie mit schwer psychiatrisch erkrankten
       Patienten gearbeitet. Die besten Erfahrungen machten wir, als wir im Rahmen
       eines Forschungsprojektes ambulante Gruppen einführten. So konnten wir mit
       den Jugendlichen die familiären Probleme außerhalb der Klinik bearbeiten,
       den Aufenthalt in der Klinik verkürzen und die Medikamente reduzieren. Wie
       bei fast allen Menschen in Krisen ging es darum, wieder Lebensperspektiven
       zu erarbeiten in Schule, Sozialem, Beruf und Familie. Nach längeren
       Klinikaufenthalten kommen junge Menschen draußen schwer zurecht. Es besteht
       die Gefahr der Hospitalisierung. Hier sind individuelle Unterstützung und
       tragfähige Beziehungen im normalen Leben wichtig, besonders, wenn die
       Familie ausfällt. Einen solchen lebensweltorientierten Ansatz gibt es in
       der Jugendhilfe, in die ich damals gewechselt bin.
       
       Wie sollte sich die Hilfelandschaft für Kinder in einer Stadt wie Hamburg
       entwickeln? 
       
       Darüber denken viele nach. Die Frage ist, warum es in Hamburg schon in der
       Jugendhilfe für rund 1.600 Kinder keine Plätze in Heimen gibt, und diese
       nach außerhalb vermittelt werden. Man sieht kaum, was dort mit ihnen
       passiert. Wir haben auch in der Jugendhilfe das Konzept der
       Sozialraumorientierung, das ich sehr unterstütze. Tauchen bei Kindern
       Probleme auf, auch wenn es psychiatrisch genannte sind, sollte man im
       Lebensfeld nach Hilfsmöglichkeiten suchen und dort Verbesserung schaffen,
       wo sie nicht zurecht kommen.
       
       Nun liest man, dass in dem neuen Heim Kinder in der ersten Phase
       geschlossen untergebracht werden können sollen. Was sagen Sie dazu? 
       
       Ich weiß nicht, warum Kinder in eine halb geschlossene Einrichtung
       eingewiesen werden müssen. Es gibt genug Erfahrung damit, ihnen mit
       pädagogischen Mitteln zu helfen. Erfahrungsgemäß schaffen geschlossene
       Einrichtungen genau die Probleme, die sie verhindern wollen – starre
       Regeln, Widerstand, Gewalt, Entweichungen.
       
       Sie haben von 1984 bis 2003 in Hamburg den
       Jugendpsychologisch-psychiatrischen Dienst geleitet. Wie lief es denn
       damals? 
       
       Damals entstanden gerade die Jugendwohnungen neu, in denen es auch
       Konflikte gab. Wir haben unser Konzept danach ausgerichtet, dass die in der
       Heimerziehung und Jugendhilfe erfahrenen Psychologen und Ärzte in dem
       Dienst die Gruppenerzieher beraten haben, um die manchmal schwierige
       Dynamik zu entwirren. So wurden Konflikte ertragbar.
       
       Und war das erfolgreich? 
       
       Eine [3][Untersuchung von Reinhold Schone] stellte nach zehn Jahren fest,
       dass es wenig Jugendpsychiatriebetten in Hamburg gab, etwa sechs auf
       100.000 Einwohner. Es kam auch selten zu Psychiatrieeinweisungen aus der
       Jugendhilfe und kaum zur Abschiebung in Heime außerhalb von Hamburg. Und
       die Kriminalität war nicht angestiegen. Es landeten zwei Drittel weniger
       Jugendliche im Strafvollzug. Das alles war politisch gewollt. Wichtige
       Unterstützung für die Jugendlichen kam durch die schulische
       Erziehungshilfe, alternative Angebote zum Strafvollzug.
       
       10 Jun 2021
       
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