# taz.de -- Zurück zum normalen Ausnahmezustand: Die Berlindemie
       
       > Einen maßvollen Übergang bekommt Berlin einfach nicht hin. Kaum fallen
       > die Coronarestriktionen, ist alles fast wie immer, nur halt ohne die
       > Touristen.
       
 (IMG) Bild: Feiern und Fliegen – auf dem Tempelhofer Feld
       
       Schlag auf Schlag waren in den vergangenen Tagen viele Coronarestriktionen
       gefallen. Noch etwas ungläubig ob der neuen Lockerheit kurvte ich durch den
       Schillerkiez. Alles schien wie immer. Also, wie lange nicht mehr. Die
       Bürgersteige ein einziger Spießroutenlauf zwischen Fastfood, Drinks to go
       mit Live-DJ-Beschallung und der wundersamen Vermehrung von
       Sperrmülltischchen und -stühlen in der Außengastronomie. Nun ganz ohne
       Testpflicht, QR-Codes oder Apps. Überall Gesichter mit riesigen,
       unkaschierten Nasen. Nasenlöchern. Nasenhaar.
       
       Berlin, dachte ich, kann gar keinen maßvollen Übergang. Wenn was geht,
       wird’s auch gemacht. Die Stadt präsentierte sich wieder in ihrem wahren
       Ausnahmezustand: der Berlindemie. Die aller Welt einredet, this is the
       place to be. Auf jeden Fall vermehrt sich der Berlinbazillus rasant und
       fügt uns zu Clustern zusammen: Vom Tempelhofer Feld trägt der Wind den
       Sound mehrerer Raves zu mir, an den Straßenecken Neuköllns wird gecornert:
       Bekannte und Zufallsfreunde kommen zwischen Bordstein und Häuserwand
       zusammen.
       
       Es entsteht ein Freeze des Aufbruchmoments, weil man ja noch nicht so ganz
       sicher ist, was nun erlaubt ist. Und durch den ich mich nun schlängle, um
       zu einem Späti in der Selchower zu gelangen. Ohne Maske ordere ich ein
       pazifisches Ale durch ein aufgeschobenes Fenster.
       
       Alles war also fast wie immer. Nur mit ohne viel Touristen. Die Stadt hatte
       in ihren gewohnten hektischen Rhythmus zurückgefunden – befeuert von
       Kamikazeradlern, E-Scooter-Boys und Truckerfahrern. Während ich auf einen
       kolumbianischen Freund wartete, schabte ich das Bier-Etikett ab.
       
       Angst-Ort Tempelhofer Ufer 
       
       Auf dem Weg zu unserem verabredeten Treffpunkt war ich das Tempelhofer Ufer
       entlanggeradelt. Eigentlich seit Kurzem ein Angst-Ort. Es war Anfang Mai,
       aus Gaza wurden Raketen auf Israel abgefeuert, und ich stand an der Ampel
       Kreuzung Schöneberger Straße und mein Blick fiel vielleicht etwas zu lange
       auf ein in zweiter Reihe geparktes Auto. Das rechte Seitenfenster wurde
       heruntergekurbelt, ich dachte, ich würde gleich nach dem Weg gefragt.
       
       Ein junger Mann sah mir herausfordernd ins Gesicht, rief unvermittelt: Hau
       ab, du Jude! Dann kurbelten auch die auf der Rückbank ihre Scheiben
       herunter: Du siehst doch aus wie ein Jude, hörte ich jetzt. Deine Brille!
       Ich brüllte irgendetwas zurück, an das ich mich nicht erinnere. Vier starke
       Männer saßen in dem Wagen, kurz davor auszusteigen. Dann sprang die Ampel
       auf Grün und sie reihten sich in den Stopp-and-go-Verkehr ein. Bald kamen
       sie zum Stehen. Ich fuhr an ihnen vorbei, stand aber so unter Adrenalin,
       dass ich vergaß, mir das Kennzeichen zu merken. Hätte ich sie anzeigen
       sollen?
       
       Nachdem wir etwas unschlüssig durch gepflasterte Straßen geeiert waren,
       bestand der kolumbianische Freund darauf, an der Kirche am Herrfurthplatz
       zu halten. Er hatte Wichtiges zu verkünden, bald sei er Vater. Ich
       beglückwünschte ihn überrascht. Dann sprachen wir über Hebammen,
       Babyprodukte, Elternzeit.
       
       Aber plötzlich hatte die Nacht den Kiez verschluckt, in den Schößen des
       Gotteshauses räkelten sich Liebespaare. Mein Freund erleichterte sich im
       Schatten eines Bauwagens. Viele, die das Tempelhofer Feld verließen,
       strandeten nun hier. Mein Blick fiel auf die nackten Knöchel. Dann auf ihre
       Schuhe. Weiße Sneakers! Alle trugen plötzlich weiße Turnschuhe. Waren die
       nicht früher dem Tennisplatz oder der Turnhalle vorbehalten? Doch dann
       dämmerte es mir. Ich wusste, warum diese Fußbekleidung gewählt wurde. Auf
       den meisten der Treter prangte ein einziger Buchstabe. Der konnte für
       „victory“ stehen, aber auch für „virus“.
       
       18 Jun 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Timo Berger
       
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