# taz.de -- Buch über Krautrock: Elektrifizierte Entnazifizierung
       
       > Krautrock is coming home: „Spiegel“-Autor Christoph Dallach versammelt im
       > Buch „Future Sounds“ Stimmen zur Oral History der deutschen
       > Hippierockszene.
       
 (IMG) Bild: Die Münchner Rockkommune Amon Düül II 1970, als sie das Album „Yeti“ aufnahm
       
       In Westdeutschland interessierte sich kaum jemand für sie. Erst mit dem
       Aufkleber „Tophit in England“ verkauften sich Alben von
       Deutsch-Amerikanische Freundschaft (DAF) auch zu Hause. So zumindest
       erzählt es Sänger Gabi Delgado in „Future Sounds.Wie ein paar Krautrocker
       die Popwelt revolutionierten“, einer Oral History des Krautrock, die der
       Spiegel-Autor Christoph Dallach kompiliert hat. DAFs Anfänge 1978 als
       experimentelle Instrumentalband lassen sich gerade noch unter jenem
       ominösen Rubrum subsumieren. Den Aufkleber könnte man freilich dem Phänomen
       Krautrock insgesamt anheften. Im eignen Land gilt der Prophet zumeist wenig
       bis nichts.
       
       Ab Ende der 1960er Jahre wurde tatsächlich Popmusik in Westdeutschland
       revolutioniert, ausgerechnet. Experimentelle Sounds von Bands wie Can,
       Neu!, Tangerine Dream und [1][Kraftwerk] repräsentierten mehr als ein
       Jahrzehnt ein radikal neues Rockidiom. Es brachte Popmusik auf ein gänzlich
       anderes, weil elektrifiziertes Level. Insofern war die Musik der
       Krautrocker:innen ein veritabler Soundtrack zum politischen Aufbruch
       dieser Zeit.
       
       ## Mehr Wertschätzung im Ausland
       
       Die hausgemachte Musik beachtete man in Westdeutschland zwar durchaus –
       mehr Wertschätzung und Anerkennung aber fand sie im Ausland, in Italien,
       Frankreich und vor allem England. Nachdem man sich in Großbritannien
       anfangs darüber amüsierte, dass Deutsche Popmusik machten, schlug die
       arrogante Ablehnung bald in obsessive Bewunderung um. Man verehrte die
       radikalen Sounds der innovativen Künstler:innen aus München, Köln und
       Westberlin, die mal eine hypnotische Motorik entfaltete, mal entgrenzend in
       kosmische Gefilde entführte.
       
       Viele der in Dallachs „Future Sounds“ erzählenden Krautrock-Musiker:innen
       staunten darüber, mit welcher Reverenz man ihnen begegnete, als sie damals
       erstmals im westliche Ausland gastierten. Auch als ich Ende der 1990er
       Jahre nach London zog, sprach man mich noch beständig auf Krautrock an und
       wollte kaum fassen, dass ich die Alben von [2][Can] und [3][Neu!] gar nicht
       kannte. Kein Wunder: Ich war in einem bayerischen Dorf mitten unter
       ehemaligen SS-Leuten aufgewachsen und fühlte mich auch im Deutschland der
       Kohl-Jahre noch unbehaust; deswegen hörte ich strikt englischsprachige
       Musik. Zudem war ich 1992 zum Studieren ins Mutterland des Pop
       ausgewandert.
       
       Während meiner drei Jahrzehnte in England konnte ich beobachten, wie die
       anglophone Faszination der music nerds für Krautrock zu einem Phänomen des
       britischen Medienmainstreams und schließlich gar zu einem neuen
       Forschungsfeld der German Studies wurde. Wie Dallachs Interviewcollage
       erläutert, beschleunigte diese Entwicklung 1995 mit einem Buch des
       britischen Popstars Julian Cope (Teardrop Explodes): Sein Sachbuch
       „Krautrock Sampler“ war, wie der Untertitel zu Recht verkündet, ein
       enthusiastischer „Guide to the Great Kosmische Music“, so dass die Alben
       der darin angepriesenen westdeutschen Bands allenthalben in den britischen
       Plattenläden ausverkauft waren.
       
       Weiter ging der Hype dann 2009, damals lief im Fernsehen der BBC die
       Dokumentation „Krautrock: The Rebirth of Germany“, 2012 legte BBC 6 mit der
       Radioserie „The Man Machine: Kraftwerk, Krautrock and the German Electronic
       Revolution“ nach. Als ich Anfang 2015 die erste akademische Konferenz zu
       Kraftwerk an meiner Universität in Birmingham organisierte, zeigte man sich
       in Presse wie in Musikblogs so verblüfft wie begeistert darüber, dass
       Kraftwerk, und damit Krautrock insgesamt, nun offiziell in akademischen
       Gefilden angekommen waren.
       
       Die BBC entsandte ein Kamerateam zur Konferenz, um im Frühstücksfernsehen
       zu zeigen, wie Kulturwissenschaftler:innen aus aller Welt über die
       Düsseldorfer Mensch-Maschinen-Musiker sprechen. Der akademische
       Krautrock-Boom wurde 2016 eingeleitet durch zwei hervorragende Studien,
       nämlich Ulrich Adelts „Krautrock: German Music in the Seventies“ und
       „Krautrock transnational. Die Neuerfindung der Popmusik in der BRD“ von
       Alexander Simmeth. Das bereits 2014 erschienene „Future Days: Krautrock and
       the Building of Modern Germany“ aus [4][der Feder des britischen
       Musikjournalisten David Stubbs] wurde 2018 von seinem Kollegen Rob Young
       ergänzt, der mit „All Gates Open. The Story of CAN“ eine voluminöse
       Biografie dieser Kölner Krautrock-Schlüsselband vorlegte.
       
       Dallachs Oral History, die bereits vor fünf Jahren angekündigt war, trifft
       insofern auf ein gut bestelltes Feld, kommt nach der langen Verzögerung
       aber zugleich etwas spät. Was etwa sein Kronzeuge Irmin Schmidt (Keyboarder
       von Can) zu berichten hat, steht alles schon in Youngs massivem Buch; auch
       Karl Bartos, ehemals bei Kraftwerk, der neben Michael Rother wichtigsten
       Quelle Dallachs für die spärlichen Informationen über Kraftwerk, hat
       mittlerweile seine Biografie veröffentlicht. Traurig ist aber vor allem,
       dass viele der Befragten – darunter [5][Gabi Delgado Lopez], Holger Czukay
       und [6][Jaki Liebezeit] – zwischenzeitlich verstorben sind.
       
       ## Verlässliche Informationen
       
       Fabriziert ist „Future Sounds“ nach dem Modell der Oral Histories von
       Jürgen Teipel („Verschwende Deine Jugend“, 2001) über den deutschen Punk
       und Rudi Eschs „Electri_City“ über die elektronische Musik aus Düsseldorf
       (2014). Den großen Erfolg beider Bände verdient auch Dallachs Kompilation:
       Krautrock is coming home – in deutscher Sprache ist „Future Sounds“
       sicherlich die verlässlichste Informationsquelle über den Versuch der
       68er-Generation in Westdeutschland, sich selbst und ihr Land mit den
       Mitteln einer experimentellen, für fremde kulturelle Einflüsse offenen und
       an einer besseren Zukunft orientierten Musik zu „entnazifizieren“.
       
       Dass mit einer polyphonen Interviewcollage aus Zeitzeugen die ganze
       Wahrheit über den Krautrock erzählt werden kann, wird aber hoffentlich
       niemand glauben. Die Erinnerungsschnipsel der Beteiligten bilden selbst
       dann, wenn Dallach widersprüchliche Einschätzungen geschickt durch harte
       Schnitte gegenüberstellt, letztlich nur eine andere Form der unkritischen
       „Eigengeschichtsschreibung“, wie wir sie aus den Memoiren gealterter
       Popstars zur Genüge kennen.
       
       Für ein tiefgreifenderes Nachdenken über den Krautrock liefert der Band
       allerdings genügend Ausgangsmaterial. So sollte man aus der Perspektive der
       Post-Colonial Studies einmal genauer perspektivieren, inwieweit der
       Krautrock eine Abwehrreaktion gegen die Deutungshoheit angloamerikanischer
       Künstler:innen war, was Popmusik ist und wie sie zu klingen hat. Durch
       eine „neue deutsche Volksmusik“, erzählt der Produktmanager des führenden
       Krautrock-Labels Ohr, sollte versucht werden, eine emanzipative,
       antinationalistische Kunstform zu schaffen, die angesichts des
       angloamerikanischen Kulturimperialismus eine Option bot, aus minoritärer
       Perspektive eine neue, unbefleckte nationale Identität zu schaffen.
       
       ## Transnational anschlussfähig
       
       Diese Germanness wiederum unterlag zumal in England zahlreichen
       Missverständnissen, wie die vielen Aussagen der britischen Auskunftsgeber
       Dallachs von Daniel Miller über Paul Weller bis Brian Eno zeigen. Zugleich
       erwies sich zumal der elektronische Zweig des Krautrock als transnational
       anschlussfähig für andere künstlerische Minoritätskonzepte wie
       Afro-Futurismus. Das Futuristische ist ohnehin das wichtigste Element am
       Krautrock: Sich festzuhalten an der utopischen Idee, dass die Zukunft,
       entgegen allem Anschein, doch noch besser ausfallen könnte als unsere
       ungenügende Gegenwart.
       
       Und daher unsere Ohren offenzuhalten für aufregende Future Sounds, die das
       Versprechen einer anderen, besseren Ordnung der Dinge hörbar machen.
       Krautrock ist deswegen unverändert zeitlose Zukunftsmusik aus Deutschland.
       
       8 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
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