# taz.de -- Der Borkenkäfer und sein schlechter Ruf: Meister des Recyclings
       
       > Forstwirte und Waldbesitzer sind sich einig: Der Borkenkäfer ist ein
       > Schädling und muss weg. Doch ist es wirklich so einfach?
       
 (IMG) Bild: Der Borkenkäfer, überlebensgroß
       
       Der Borkenkäfer ist winzig. Selbst auf dem Fingernagel sieht er aus wie ein
       Holzsplitter. Erst in der Vergrößerung glänzt sein Körper: schwarz, braun,
       rot, manchmal sogar lila. Feine Härchen ummanteln ihn. Obwohl er nur vier
       bis sechs Millimeter groß ist, verändert er ganze Landschaften.
       
       Ist vom Borkenkäfer die Rede, ist in diesem Text – und auch sonst meistens
       im deutschen Sprachgebrauch – der Ips typographus gemeint, der Buchdrucker,
       auch Großer Achtzähniger Fichtenborkenkäfer genannt. Dieser Käfer ist der
       Feind der Forstwirtschaft, manchem Menschen scheint er gar verantwortlich
       für das Waldsterben. Dabei gehen ihm die Klimakatastrophe, Dürre, Stürme
       und eine defizitäre Waldbewirtschaftung voraus. Der Borkenkäfer braucht den
       Tod, doch er verursacht ihn nicht.
       
       Der Buchdrucker kann unter der Rinde oder im Boden überwintern. Steigen die
       Temperaturen, meist Mitte bis Ende April, schwärmen männliche
       Pionierkäfer aus. Sie fliegen, gleiten still, auf der Suche nach Bäumen
       für ihren Nachwuchs. Dort bohren sich die Käfer in die Rinde und legen
       Höhlen an, Rammelkammern genannt. Mehrere Weibchen folgen dem Duft der
       männlichen Sexualpheromone in die Höhle, nach der Paarung bohren sie einen
       Muttergang und legen ihre Eier ab.
       
       Sorgsam kümmern sie sich um den ungeborenen Nachwuchs: Sie putzen die Eier
       und beschützen sie vor anderen Käfern. Dann schlüpfen milchig-weiße Larven,
       fressen sich zwischen Borke und Splintholz in den Bast und hinterlassen ein
       kunstvolles Fraßbild, verschlungen und filigran wie ein Farnblatt. Dem Baum
       jedoch kappen diese Kunstwerke die Lebensadern ab, sie zerstören die
       Leitungen, in denen er Wasser und Nährstoffe von unten nach oben und
       umgekehrt transportiert.
       
       ## NRW ist besonders stark betroffen
       
       Die feste Haut der Buchdruckerlarve ist nicht dehnbar, dreimal muss sie
       sich häuten, bevor sie sich verpuppt und schließlich der Jungkäfer
       schlüpft. In einer kalten, feuchten Region dauert die Entwicklung vom Ei
       zum Käfer drei Monate, ist es warm und trocken, geht es schneller.
       Normalerweise entstehen so im Laufe eines Sommers ein bis zwei
       Käfergenerationen.
       
       Im Sauerland waren es 2020 vier. Die Wälder in Nordrhein-Westfalen sind
       besonders betroffen von Klimaveränderung und Borkenkäferbefall, das
       nordrhein-westfälische Umweltministerium zählte von 2018 bis September 2020
       30,7 Millionen Kubikmeter Schadholz allein in Fichtenwäldern – Tendenz
       steigend.
       
       Als eine Reaktion darauf veröffentlichte der Landesbetrieb Wald und Holz
       NRW den „Praxisleitfaden Fichten-Borkenkäfer, Erkennen – Bekämpfen –
       Vorbeugen“. Das Ziel ist deutlich: Der Käfer muss gestoppt werden.
       
       Geführt wird der Kampf gegen das Insekt mit einem Harvester, einem
       sogenannten Holzvollernter. Die Forstmaschine ähnelt einem übergroßen
       Bagger, ihr Greifarm hat eine Reichweite von zwölf Metern und knickt Bäume
       ab wie Mikado-Stäbchen. Wird Käferbefall festgestellt, rollt der Koloss in
       den Wald. Harvester gegen Borkenkäfer: Zwanzig Tonnen gegen fünf
       Millimeter. Achtzig Prozent der Käferpopulation stirbt. Fällt dabei Rinde
       vom Baum, wird sie mit schwarzer Folie abgedeckt. Das soll das Abwandern
       der restlichen Käfer verhindern.
       
       Was bleibt, sind Kahlschläge. Leere Flächen, auf denen kein Baum mehr steht
       und auch kein Totholz mehr liegt, kein Käfer mehr krabbelt und die
       Lebensgrundlage von Millionen anderen Organismen gleich mit zerstört wurde.
       
       ## Anruf beim Borkenkäfer-Freund
       
       Anruf bei Heinz Nöllenheidt, er ist pensionierter Forstamtsleiter aus dem
       Sauerland. Bereits auf einer Dienstbesprechung im Herbst 1990 hatte er den
       Borkenkäfer als seinen Freund bezeichnet. Fast drei Jahrzehnte später, als
       der Borkenkäferbefall im Jahr 2018 deutlich zunahm, erhielt er eine
       Whatsapp-Nachricht von einem ehemaligen Kollegen: „Jetzt siehst du, was
       dein Freund anrichtet.“
       
       Nöllenheidt lacht ins Telefon, als er davon erzählt. Kein wütendes oder
       verbittertes Lachen, er schmunzelt über die Denkweise seiner Kollegen. Zwar
       würden immer mehr Förster naturgemäßen Waldbau praktizieren, doch bleibe
       die Natur in Deutschland mit der Wirtschaft verflochten.
       
       Nöllenheidt spricht sich gegen großflächigen Kahlschlag aus. Wenn es nach
       ihm ginge, würde ein großer Teil des Schadholzes im Wald verbleiben und
       mit ihm der Borkenkäfer, der Meister des Recyclings. Die Baumstämme
       speichern noch viele Jahre nach ihrem Tod Kohlenstoff und Feuchtigkeit und
       kühlen so den Wald an heißen Tagen. Wurzelteller stabilisieren den
       Waldboden und versorgen ihn mit wichtigen Nährstoffen, im Schutz der
       abgestorbenen Stämme und toten Kronen wachsen junge Bäume.
       
       ## Totholz ist ein Lebensraum
       
       Totholz dient für mehr als fünf Prozent der Lebewesen im Wald als
       Lebensraum, Brutstätte und Nahrungsquelle. Bis heute schreibt Nöllenheidt
       E-Mails mit dem Betreff „Mein Freund, der Borkenkäfer“.
       
       Unter den Waldbesitzern im Sauerland wird für das Waldsterben vor allem der
       Borkenkäfer verantwortlich gemacht. Doch der bewohnt Mitteleuropa länger
       als der Mensch. Mehr als 120 Arten sind heimisch, jede spezialisiert auf
       ein bestimmtes Holz. Sie sind Teil des Ökosystems Wald: Der Borkenkäfer
       arbeitet als Sterbebegleiter, er führt kranke und schwache Bäume in den
       Tod.
       
       Denn eigentlich ist er ein Schwächeparasit. Gegen eine Fichte von guter
       Gesundheit hat ein einzelner Käfer keine Chance: Bohrt er sich in die
       Rinde, ertrinkt er, der Baum tötet ihn mit Harz. Bis zu zweihundert
       Borkenkäfer kann ein gesunder Baum abwehren. Doch ist der Wald als Ganzes
       krank, reicht das nicht.
       
       Und der Wald ist immer häufiger krank, viele Bäume leiden unter dem Klima
       der vergangenen Jahrzehnte. Sie verdursten, haben Sturm- oder Hitzeschäden
       und für Abwehrmechanismen keine Kraft mehr. Dringt der Käfer in ihre Rinde
       ein, wandelt er einen kleinen Tropfen Harz – ein letzter, verzweifelter
       Abwehrversuch – in Lockstoffe um. Damit signalisiert er seinesgleichen
       optimale Bedingungen und weitere Käfer folgen.
       
       Stehen zu viele geschwächte Bäume beieinander, potenziert sich der
       Käferbestand, bis er irgendwann so groß ist, dass auch gesunde Bäume keine
       Chance mehr haben.
       
       ## Symptom- statt Ursachenbekämpfung
       
       Für die Ursachen dieses Problems ist der Mensch verantwortlich. Für ihn
       dient die Natur als wirtschaftliches Gut, und so pflanzte er lange Zeit
       Fichten, Fichten, Fichten – die wachsen schnell und liefern gut
       verwertbares Holz, das sich für viele Zwecke eignet.
       
       Doch Fichten würden in Deutschland eigentlich erst in einigen hundert
       Metern Höhe wachsen, sie mögen es kühl, was es immer seltener ist. Ihre
       Anpflanzung als Monokultur statt in Mischwäldern schafft unnatürliche
       Lebensräume, die anfällig sind gegen äußere Einflüsse, wovon der
       Borkenkäfer profitiert – und der Mensch bekämpft ihn als Schädling. Ein
       Kampf gegen Symptome statt gegen Ursachen.
       
       In der Ökologie ist der Borkenkäfer kein Schädling, denn „Schäden“ sind
       eine Chance auf gesunde Natur. Ein Blick in den Naturwald zeigt, dass auch
       dort Bäume sterben, und auch dort gibt es den Käfer, doch er wird nicht
       bekämpft. Lässt man Natur Natur sein, entsteht ein neuer, gesunder
       Lebensraum, der sich selbst reguliert und dabei vom Borkenkäfer unterstützt
       wird. Ein jahrtausendealtes Modell könnte der Wald der Zukunft sein.
       
       7 Aug 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Maike Schulte
       
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