# taz.de -- Libanon ein Jahr nach der Explosion: Erst die Stille, dann „Revolution“
       
       > Am Jahrestag der Detonation im Hafen gedenken die Menschen in Beirut den
       > Opfern. Bei Protesten fordern sie einen Systemwandel.
       
 (IMG) Bild: Wut auf den Straßen von Beirut: Proteste am Jahrestag der Explosion
       
       BEIRUT taz | Mehr als Tausend Menschen versammelten sich am
       Mittwochnachmittag auf Beiruts Straßen, um den Opfern der [1][Explosion vor
       einem Jahr] zu gedenken – aber vor allem, um Gerechtigkeit und Aufklärung
       zu fordern.
       
       Die Detonation von ungesichert gelagertem Ammoniumnitrat im Beiruter Hafen
       am 4. August 2020 tötete mindestens 214 Menschen, verletzte mehr als 6.000,
       zerstörte das Zuhause von rund 30.000 und hinterließ eine tiefe Wunde im
       kollektiven Gedächtnis.
       
       Am Mittwoch blieben Geschäfte, Banken und offizielle Einrichtungen
       geschlossen. Krankenhäuser, in denen Mitarbeitende ums Leben kamen und die
       von der Detonation stark beschädigt wurden, hielten Gottesdienste ab. Trotz
       der schwülen Sommerhitze und der Trauer, die der Gedenktag auslöst, zogen
       Menschenmengen von verschiedenen Punkten der Stadt aus zur langen
       Hauptstraße vor dem Hafen. Auf Plakaten schrieben die Demonstrierenden
       „Korruption tötet“ oder „Handelt für Gerechtigkeit“. An einigen Hochhäusern
       hingen Banner mit Aufschriften wie „Geiseln eines mörderischen Staates“.
       
       Die Menschen forderten, dass Regierung und Parlament die Immunität von
       hochrangigen Beamten aufheben, damit diese befragt und strafrechtlich
       belangt werden können. Mindestens drei Minister, der Direktor der
       Staatssicherheit, der ehemalige Regierungschef sowie der Präsident sollen
       laut Recherchen von Journalist*innen sowie von Human Rights Watch von
       der gefährlichen Fracht gewusst, aber nicht gehandelt haben.
       
       „Genug!“, sagte die Direktorin einer religiösen Beiruter Schule der taz.
       „Ich war in den Bergen und habe die Explosion dort selbst gehört. Als ich
       am nächsten Tag in die Schule gekommen bin, war sie komplett zerstört.“
       Deshalb ist die Nonne auf den Sassine-Platz in der Innenstadt gekommen, um
       gegen die [2][politische Elite] und ihren konfessionell geprägten
       Klientelismus zu protestieren. „Ich bin religiös, aber die Religion gehört
       in die Kirche und ins Private, nicht in den Staat. Wir müssen endlich Nein
       sagen. (…) Das ganze System muss ausgetauscht werden.“
       
       ## Rufe nach „Revolution“
       
       Als Helden hingegen ehrte die Masse die Feuerwehrleute, die beim Ausbruch
       des Brandes vor einem Jahr an die Lagerhalle 12 eilten – ohne zu wissen,
       dass dort hochexplosiver Stoff lagerte. Mit Beifall begleitet wurde ein
       Feuerwehrwagen, der zu Ehren der Gestorbenen von der Feuerwache bis zum
       Hafen den Weg des Löschtrupps vor einem Jahr abfuhr.
       
       Familie und Freund*innen der Opfer waren zu einer Trauerfeier direkt an
       der Stelle geladen, an der das Ammoniumnitrat explodierte. Dort wurden die
       Namen der Opfer vorgelesen. Um 18:06 Uhr flogen Militärjets über den Hafen,
       sie zogen Rauchspuren in den libanesischen Nationalfarben, grün und rot.
       Zum Zeitpunkt der Explosion um 18:07 Uhr wurde es rund um den Hafen still,
       um der Opfer zu gedenken. Um 18:08 Uhr riefen die Menschen rund um die
       eingerichtete Bühne lautstark: „Revolution“.
       
       Im Oktober 2019 protestierten Hunderttausende im Libanon gegen die
       Misswirtschaft der Regierung, die das Land in seine [3][schwerste
       Wirtschaftskrise] gebracht hat. Die Coronapandemie verstärkte die Lage,
       Tausende verloren ihre Arbeit. Seitdem die Regierung unter Hassan Diab –
       selbst weniger als ein Jahr im Amt– nach der Explosion zurückgetreten ist,
       fehlt eine handlungsfähige Führung.
       
       ## Recherchen ergeben Verwicklung der Hisbollah
       
       Wie vor einem Jahr, als die Menschen zunächst Vermisste suchten und Steine
       eingestürzter Wände zusammentrugen, bevor sie vor dem Parlament [4][für die
       Absetzung der Regierung protestierten], zogen auch am Mittwoch einige
       weiter vor das Parlament. Während im Hafen noch ein Geistlicher predigte,
       drängte das Militär die Protestierenden in der Innenstadt mit Wasserwerfern
       und Tränengas zurück.
       
       Die schiitische Hisbollah hingegen versuchte, die Aufmerksamkeit auf den
       von ihr kontrollierten Süden zu lenken und feuerte Raketen auf Israel ab.
       Das israelische Militär reagierte am Donnerstagmorgen mit
       Kampfjet-Angriffen auf Raketenabschussrampen im Südlibanon.
       
       [5][Recherchen eines libanesischen Journalisten] hatten ergeben, dass das
       explodierte Ammoniumnitrat zwei syrischen Geschäftsmännern gehörte, die
       aufgrund ihrer Unterstützung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assads
       von der US-Regierung sanktioniert werden.
       
       Der Besitzer des Schiffes sei ein zyprischer Reeder gewesen, der Schulden
       bei einer tansanischen Bank hatte, die mit der Hisbollah verknüpft ist. Die
       Hisbollah ist Unterstützerin von [6][Baschar al-Assad im Krieg in Syrien].
       Es ist daher möglich, dass die Fracht für die Hisbollah bestimmt war – und
       ein Teil bereits vor der Detonation nach Syrien ging.
       
       Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels war die Zahl der
       Todesopfer falsch angegeben. Wir haben die entsprechende Stelle zu
       „mindestens 214“ geändert.
       
       5 Aug 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Der-Libanon-ein-Jahr-nach-der-Explosion/!5786497
 (DIR) [2] /Politologe-ueber-Neuwahlen-im-Libanon/!5701840
 (DIR) [3] /Armut-im-Libanon/!5781366
 (DIR) [4] /Proteste-in-Beirut/!5705988
 (DIR) [5] https://www.reuters.com/article/uk-lebanon-crisis-blast-idUSKBN29M0AJ
 (DIR) [6] /Praesidentschaftswahl-in-Syrien/!5775151
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julia Neumann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Libanon
 (DIR) Protest
 (DIR) Beirut
 (DIR) Hisbollah
 (DIR) GNS
 (DIR) Libanon
 (DIR) Libanon
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Libanon
 (DIR) Libanon
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Libanon
 (DIR) Libanon
 (DIR) Beirut
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Mehrere Tote im Libanon: Gewalt versetzt Beirut in Angst
       
       Bei Schießereien in Beirut sind fünf Menschen getötet worden. Hintergrund
       ist ein Streit über die Ermittlungen zur Explosion im Hafen von Beirut.
       
 (DIR) Ein Jahr nach der Explosion in Beirut: Neue Regierung im Libanon
       
       Nach 13 Monaten Stillstand hat das Land eine neue Regierung. Sie besteht
       aus der alten Elite, die das Land in die Krise gestürzt hat.
       
 (DIR) Migration im Mittelmeer: Zyperns Gastfreundschaft
       
       Zypern will 88 Personen, die nach Zypern geflohen sind, nach Libanon
       zurückschicken. Die Aufnahmelager auf der Insel sind überfüllt.
       
 (DIR) Treibstoffmangel in Libanon: Tödliches Benzin
       
       Bei der Explosion eines Tanklasters starben 33 Menschen. Weil die Regierung
       angekündigt hat, Treibstoff zu verteuern, wird Benzin derzeit gehortet.
       
 (DIR) Explosion von Treibstofftank im Libanon: Mindestens 28 Tote
       
       In der Region Akkar im Norden Libanons ist ein Treibstofftank explodiert.
       Die Armee hatte zuvor Soldaten entsandt, um die Benzinverteilung zu
       kontrollieren.
       
 (DIR) Ein Jahr nach der Explosion in Beirut: Tiefe Narben, keine Gerechtigkeit
       
       Während der libanesische Staat auf allen Ebenen versagt, wird die
       Gesellschaft von einzelnen Initiativen zusammengehalten.
       
 (DIR) Geberkonferenz in Paris: Heftige Kritik an Libanons Eliten
       
       Bei einer Hilfskonferenz für das Land findet Frankreichs Präsident scharfe
       Worte gegen die Führungsriege. Dennoch kündigt er Hilfsgelder an.
       
 (DIR) Der Libanon ein Jahr nach der Explosion: Das Meer oder die Armut
       
       Seit der Explosion im Beiruter Hafen haben sich die Lebensumstände der
       Menschen im Libanon weiter verschlimmert. Ein Ortsbericht.
       
 (DIR) Ein Jahr nach der Explosion in Beirut: Der große Knall und die Gründe
       
       Vor einem Jahr explodierten tonnenweise Chemikalien im Hafen von Beirut.
       Für die Katastrophe sollen Korruption und Mafia verantwortlich sein.