# taz.de -- Debatte um „Vaterjuden“: Verschleppter Konflikt
       
       > Vor 30 Jahren legte der deutsche Staat durch Einwanderungsregeln fest,
       > wer jüdisch ist. Heute dreht sich die Debatte um Befindlichkeiten.
       
 (IMG) Bild: Jüdische Emigranten aus der Ukraine vor dem Grenzdurchgangslager Friedland, 1998
       
       Seit einigen Wochen geistern ein Name und ein Begriff durch die deutschen
       Feuilletons: Max Czollek und „Vaterjude“. Anfang August hatte Autor Maxim
       Biller dem Publizisten Max Czollek in einer [1][Zeit-Kolumne abgesprochen],
       der Halacha nach Jude zu sein. Die Halacha, das jüdische Religionsgesetz,
       besagt nämlich, dass jüdisch ist, wer eine jüdische Mutter hat oder zum
       Judentum konvertiert ist. Auf Czollek trifft das nicht zu.
       
       Czollek selbst wies die Vorwürfe zurück. Auf Twitter schrieb er, er habe
       nie öffentlich oder privat behauptet, dass seine Mutter jüdisch sei. Er
       sprach sich außerdem dafür aus, die Debatte über Pluralität im Judentum
       weiterzuführen.
       
       [2][In der Jüdischen Allgemeinen] schaltete sich kurze Zeit später der
       Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, mit
       einem kurzen Gastbeitrag ein. Wenig überraschend war seine Argumentation:
       Ob man jüdisch sei oder nicht, richte sich nach den Regeln der Religion.
       Czollek mag sich dem Judentum nahe fühlen, ein echter Jude werde er dadurch
       trotzdem nicht. So Schusters Urteil.
       
       Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main,
       widersprach [3][daraufhin auf Zeit Online]. Er forderte Pluralismus und die
       Anerkennung „hybrider Identitäten“. Später äußerten sich Autorin Mirna Funk
       [4][in der FAZ], Tuvia Tenenbom [5][im Spiegel] sowie Sasha Marianna
       Salzmann [6][ebenfalls in der FAZ].
       
       Konservative und orthodoxe Stimmen fordern in der Debatte, sich an
       religiöse Regeln zu halten. Progressive Stimmen wünschen sich die Inklusion
       von sogenannten Vaterjuden, also solchen Menschen, deren Vater jüdisch ist.
       
       Zudem sehen Unterstützer:innen von Czollek in der Fixierung auf seine
       Person einen Vorwand, „um einen engagierten Befürworter einer
       pluralistischen Gesellschaft zu diskreditieren“, wie es [7][in einer
       aktuellen Stellungnahme] zahlreicher Personen aus der Kultur- und
       Journalismusbranche heißt. Sasha Marianna Salzmann sieht in Czollek gar das
       Mitglied einer Minderheit, das „weniger Sprechzeit“ in dieser Gesellschaft
       habe und betrachtet gleichzeitig Czolleks jüdische Kritiker:innen als
       solche, die ihm „die viele Redezeit“ neideten. Dass sich beide Punkte
       widersprechen, geschenkt.
       
       ## Einwanderung aus der Sowjetunion
       
       Wer sich in den vergangenen 30 Jahren mit der Geschichte der in Deutschland
       lebenden Jüdinnen und Juden befasst hat, wird der derzeitigen
       Auseinandersetzung etwas überdrüssig sein. Was hier anklingt, ähnelt einer
       Diskussion, die in den 1990er Jahren in Deutschland fernab der deutschen
       Öffentlichkeit geführt wurde. Heute zeigt sich: Wirklich weitergekommen
       scheint in der Diskussion niemand zu sein.
       
       Als ab Beginn der 1990er Jahre über 200.000 Jüdinnen und Juden und ihre
       Familien aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland einwanderten,
       wurde schon einmal die Frage verhandelt, wer jüdisch genug war. Die Antwort
       darauf entschied darüber, wer einreisen durfte und wer nicht.
       
       Deutsche Politiker:innen und jüdische Funktionäre, wie der damalige
       Zentralratsvorsitzende Heinz Galinski, brachten gemeinsam die Einwanderung
       postsowjetischer Jüdinnen und Juden auf den Weg. Für sie schaffte man einen
       juristischen Rahmen: Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion
       konnten [8][als sogenannte „Kontingentflüchtlinge“] einreisen.
       
       ## Blühendes jüdisches Leben
       
       Vonseiten der jüdischen Institutionen setzte man Hoffnung in die
       Ankömmlinge. In ihnen sah man die Chance, die überalterten Gemeinden wieder
       aufblühen zu lassen. Denn 1990 betrug die Mitgliederzahl gerade einmal
       29.089. Nach dem Zuzug waren es bald schon wieder knapp über 100.000
       Mitglieder.
       
       Um nur wenige Jahrzehnte nach der Shoa und den Nürnberger Gesetzen die
       unangenehme Situation zu vermeiden, als deutscher Staat Stammbäume
       jüdischer Menschen zu durchforsten, griff man auf die sowjetische, schon
       vorhandene Definition zurück. Dort bestand die Vorstellung einer jüdischen
       Nationalität, die nazionalnost, die wie andere politische Ethnien, Russe,
       Ukrainer oder Tatare, im sowjetischen Pass unter Punkt fünf vermerkt wurde.
       Im Gegensatz zu den Gesetzen der Halacha übertrug sich diese Nationalität
       über den Vater. In der Sowjetunion waren vaterjüdische Identitäten also
       gelebte Realität.
       
       Postsowjetische Jüdinnen und Juden und ihre Familienmitglieder konnten
       unter diesen Gesichtspunkten in den 1990er Jahren also rechtmäßig nach
       Deutschland einwandern. Sie trugen maßgeblich dazu bei, dass sich
       Deutschland bis heute damit schmücken kann, wieder zu einem „blühenden
       jüdischen Leben“ gefunden zu haben. Sie stärkten die Positionen des
       Zentralrats und belebten die Gemeinden, die vom Aussterben bedroht waren.
       
       ## Ausschluss aus der Gemeinde
       
       [9][In den meisten orthodoxen Gemeinden] fanden diese Menschen nach ihrer
       Ankunft in Deutschland allerdings keinen Platz. Über die Hälfte der
       postsowjetischen Jüdinnen und Juden ist heute kein Mitglied in einer
       Gemeinde – weil ihnen als Vaterjuden der Weg verwehrt blieb oder sie
       schlicht kein Interesse hatten. Für die Einreise jüdisch genug, für die
       Gemeinde aber nicht.
       
       Was sich in den 90er Jahren beobachten ließ, war ein Zusammenprall zweier
       unterschiedlicher Verständnisse von Jüdischkeit: Orthodox-religiöse
       Identitätsvorstellungen stießen auf säkulare postsowjetische Jüdinnen und
       Juden. Dass diese säkularen Juden weitestgehend assimiliert in ihren
       Herkunftsländern gelebt hatten und wenig Wissen in Bezug auf religiöse
       Rituale mitbrachten, wurde in Deutschland als Defizit gewertet. Bis heute
       hält sich diese Ansicht.
       
       Wo man damals die Einwanderung damit begründete, bedrohte Juden
       aufzunehmen, steht seit 2005 explizit die weitere Existenz der jüdischen
       Gemeinden im Zentrum. In jenem Jahr erfolgte die Reform des
       Einwanderungsverfahrens für jüdische Zuwander:innen. Dafür starkgemacht
       hatte sich der Zentralrat der Juden, de facto führte das zum Rückgang der
       Zuwander:innenzahl.
       
       Die Aufnahmeregeln zum [10][„Aufnahmeverfahren für jüdische Zuwanderinnen
       und Zuwanderer“] des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sind seit
       2005 strenger formuliert: Sie zielen darauf ab, nur noch solche Jüdinnen
       und Juden einreisen zu lassen, die sich auch klar zur jüdischen Religion
       bekennen. Potenzielle russisch-jüdische und meist säkulare
       Einwander:innen müssen den Behörden eine religiös-jüdische Identität
       vorgaukeln, um ihren Aufnahmeantrag bewilligt zu bekommen. Dass das wenig
       sinnvoll und nachhaltig ist, dürfte klar sein.
       
       ## Mehrheit einer Minderheit
       
       Die aktuelle Vaterjuden-Debatte ist vor diesem Hintergrund zurückgeblieben.
       30 Jahre nach dem Beginn der Einwanderung von säkularen postsowjetischen
       Jüdinnen und Juden fokussiert man sich lieber auf Befindlichkeiten
       einzelner Personen, anstatt Probleme und Realitäten normaler Menschen zu
       thematisieren.
       
       Die Erfahrung russischsprachiger Jüdinnen und Juden ist eben eine
       besondere. Sie ist geprägt durch Ausschlüsse. Einerseits als vermeintlich
       defizitäre Juden, weil sie säkular leben, und anderseits als
       Zuwanderer:innen, die von alteingesessenen Juden und der
       Mehrheitsgesellschaft oftmals nur als Migrant:innen wahrgenommen wurden.
       Im deutschen Diskurs findet diese Problemdarstellung selten Platz. Dabei
       bilden sie, die postsowjetischen Jüdinnen und Juden, die Mehrheit einer
       Minderheit. Sie bleiben, mal wieder, unsichtbar.
       
       Dass die Fokussierung auf Max Czollek und persönliche Angriffe gegen ihn
       daneben sind, sollte klar sein. Doch der Punkt ist: Czollek hat wenig zu
       befürchten. Eine Person wie er, die als Publizist in der deutschen
       Öffentlichkeit einen festen Platz hat, deren Bücher und Texte in den
       Feuilletons positiv besprochen werden; eine Person also, die anerkannt und
       schon jetzt gehört wird, nimmt eine privilegierte Position ein. Dagegen
       sieht es für postsowjetische Jüdinnen und Juden, deren Identitäten seit 30
       Jahren Gegenstand von Beurteilungen sind, schlecht aus.
       
       ## Konflikt zwischen Alten und Neuen
       
       Der Großteil der derzeitigen Debattenbeiträge trifft also nicht den Kern.
       Worum es doch wirklich geht, sind nicht die angeblich verheimlichten
       Familienverhältnisse des Publizisten Czollek, sondern ein verschleppter
       Konflikt, der vor 30 Jahren zwischen jüdischen Institutionen und den neu
       zugewanderten Jüdinnen und Juden entstanden ist.
       
       Jahrzehnte interessierte sich kaum jemand für die Ungerechtigkeiten, die an
       der Einwanderungspraxis für jüdische Zuwander:innen aus der ehemaligen
       Sowjetunion hingen. Nach 30 Jahren ist es an der Zeit, genau darüber zu
       sprechen.
       
       15 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.zeit.de/2021/33/max-czollek-judentum-linke-kommunismus-intellektueller-juedischsein
 (DIR) [2] https://www.juedische-allgemeine.de/politik/nach-den-regeln-der-religion/
 (DIR) [3] https://www.zeit.de/kultur/2021-08/judentum-alltag-maxim-biller-max-czollek-definitionen
 (DIR) [4] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/wer-sich-jude-nennen-darf-ein-gastbeitrag-zum-judentum-17511971.html
 (DIR) [5] https://www.spiegel.de/kultur/tuvia-tenenbom-zu-max-czollek-maxim-biller-und-mirna-funk-wer-ist-jude-a-0f3f8696-af63-4a4c-ad77-4ef9348d0de2
 (DIR) [6] https://zeitung.faz.net/faz/feuilleton/2021-09-14/22a6e5ce942b4e3698642fa004bc109e/?GEPC=s9
 (DIR) [7] https://docs.google.com/document/d/e/2PACX-1vSTyiq9eiuQOlOk_n-9eWR0xT3bGOXU52x5dtoLwDpTN43oW7y5sHxJ1sIEcOyoLGbbBU0Wz5cuQpFQ/pub
 (DIR) [8] /Kommentar-Renten-Kontingentfluechtlinge/!5572102
 (DIR) [9] /Hamburgs-Reformjuden-sind-wieder-da/!5464455
 (DIR) [10] https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/MigrationAufenthalt/merkblatt-aufnahmeverfahren-deutsch.pdf?__blob=publicationFile&v=4
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Erica Zingher
       
       ## TAGS
       
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