# taz.de -- Tödliche Schießerei in Belarus: Programmierer versus KGB
       
       > Zwei Menschen kommen in Minsk bei einer Hausdurchsuchung ums Leben. Janka
       > Belarus über stürmische Zeiten in Minsk. Folge 105.
       
 (IMG) Bild: Er war verheiratet und Vater eines Kindes: Protest für Andrei Seltzer in Kiew am 29. September
       
       Ein Mensch wurde ermordet – am 28. September, in Minsk, durch Mitarbeiter
       des belarussischen Geheimdienstes KGB. Grund: „Beteiligung an
       terroristischer Tätigkeit“. Während der „Abarbeitung der Adressliste von
       Personen, die an terroristischen Tätigkeiten beteiligt“ waren, kamen die
       KGB-Vertreter zu dem Minsker in die Wohnung. Er leistete Widerstand, indem
       er mit einer Jagdflinte schoss. Die Sicherheitskräfte ihrerseits eröffneten
       ebenfalls das Feuer, der Mann starb.
       
       Der Mann, der angeblich als Erster schoss, war der 32-jährige Programmierer
       Andrei Selzer, Mitarbeiter des Software-Unternehmens EPAM Systems. Er war
       verheiratet und Vater eines Kindes. Bekannt wurde außerdem, dass die Waffe
       in seiner Wohnung legal war.
       
       Selzer war Mitglied der „Belarussischen Gesellschaft für Jäger und Angler“.
       Die letzte Gebühr für seinen Jagdschein hatte er am 13. August 2021
       gezahlt. Keine fünf Stunden nach dem Vorfall veröffentlichten die
       staatlichen Medien ein Video, das angeblich den Schusswechsel in Andreis
       Wohnung zeigt. Aber dieser Film wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet.
       
       Was als erstes ins Auge fällt – die Kleidung der Mitarbeiter, die gekommen
       waren, um nach eigenen Worten eine „Person, die an terroristischen
       Tätigkeiten beteiligt war“ festzunehmen. Die Sicherheitskräfte im Film
       trugen nicht einmal kugelsichere Westen, obwohl in ähnlichen Situationen
       sonst für solche Aufgaben [1][Spezialeinheiten der OMON] (Sondereinheit der
       Polizei, die v.a. gegen Demonstrierende eingesetzt wird; Anm. der
       Redaktion) in voller Montur geschickt werden. Bevor Selzers Wohnungstür mit
       einem Vorschlaghammer eingeschlagen wurde, stellten sich Männer in Zivil
       vor: „Aufmachen! Polizei!“ Das heißt, sie logen, wer sie waren und woher
       sie kamen.
       
       Auffällig sind hier die Dummheit der KGB-Vertreter und ihr Vertrauen darin,
       straflos aus der Sache herauszukommen: Ihr hattet nicht mit Widerstand
       gerechnet, sondern dachtet, ihr könntet den Mann „wie üblich“ festnehmen
       und ins Gefängnis stecken. Ihr konntet euch nicht mal vorstellen, dass sich
       in der Wohnung eine Waffe befand?
       
       Beachtet Ihr nicht mal eure eigenen KGB-Vorschriften? „Während des
       Einsatzes sind die Militärs des Unteroffizierskorps verpflichtet, das
       Militärpersonal des Oberoffizierskorps nach vorne zu lassen.“
       
       Auch interessant, dass die Generalstaatsanwaltschaft schon nach 24 Stunden
       den Abschluss der Untersuchungen gegen die Strafverfolgungsbeamten melden
       konnte, die Andrei Selzer erschossen haben und auch, dass sie keine
       Gesetzesverletzungen feststellen konnten.
       
       ## Nicht das Ende der Geschichte
       
       Das ist übrigens auch nicht das Ende der Geschichte. Andreis Frau, Maria,
       die sich mit ihm in der Wohnung aufhielt, wurde verhaftet. Als Verdächtige
       im Mordfall eines KGB-Mitarbeiters. „Reicht es, auf einer Videoaufnahme zu
       sein, auf der die Vorfälle in der Wohnung zu sehen sind, um an einem Mord
       beteiligt zu sein? Oder hat die Ermittlung andere Hinweise auf ihre
       Beteiligung an dem Verbrechen?
       
       Solange es noch keine ausreichenden Beweise für Marias Beteiligung gibt,
       kann niemand sicher sein, dass mit ihrer Verhaftung nicht der Wunsch
       verbunden ist, die wahren Vorkommnisse zu verschleiern“, sagt ein Vertreter
       des Büros von Swetlana Tichanowskaja, der Anwalt Sergei Sikrazki. Und zur
       gleichen Zeit wird Maria wahrscheinlich gerade gefoltert. Zum Glück war der
       Sohn des Paares zum Zeitpunkt der Tragödie nicht zu Hause. Jetzt lebt er
       bei der Großmutter.
       
       Journalist*innen sprachen mit Freund*innen und Bekannten von Andrei.
       Alle beschreiben ihn als guten, freundlichen und empathischen Menschen, der
       Mittelpunkt des Freundeskreises. Wegen dieses Artikel blockte das
       Informationsministerium die Website des Portals Komsomolskaja Prawda w
       Belarusi mit folgendem Kommentar: „Auf der Website kp.by findet sich eine
       Veröffentlichung, die Inhalte enthält, die zur Bildung von Gefahrenquellen
       für die nationale Sicherheit führen kann, bestehend aus künstlich
       eskalierenden Spannungen und Konfrontationen in der Gesellschaft, zwischen
       Staat und Gesellschaft.“
       
       Darüber war man sogar im Kreml erstaunt: „Die Minsker Entscheidung, den
       Zugang zur Website der Komsomolskaja Prawda in Belarus einzuschränken, ist
       ein Angriff auf die Pressefreiheit. Damit ist der Kreml nicht
       einverstanden“, zitiert die russische Nachrichtenagentur TASS Dmitri
       Peskow, den Pressesprecher von Wladimir Putin.
       
       Anscheinend versteht man im Informationsministerium unter dem Wort
       „Gesellschaft“ nicht „Menschen“. Weil das Volk in den sozialen Netzwerken
       darüber schreibt, dass wir, so scheint es, an der Schwelle zu einem
       Bürgerkrieg stehen. Es ist sehr befremdlich zu sehen, wie Menschen ganz
       eindeutig zwischen „unsere“ und „die anderen“ differenzieren und kein
       Mitleid haben.
       
       Der getötete 31-jährige KGB-Mitarbeiter hinterlässt eine Frau und ein
       kleines Kind. Man sollte Mitleid mit ihnen haben. Aber nein, wenn das
       Familienoberhaupt im August 2020 eine Entscheidung getroffen hat (für das
       [2][System Lukaschenko] zu arbeiten, Anm. der Redaktion), dann soll eben
       das „System“ jetzt seiner Familie helfen (umso mehr, als seine Mutter
       Leiterin einer Abteilung der KGB-Zentrale ist), die Leute werden es nicht
       tun. Die Erfahrung zeigt übrigens, dass das „System“ solche Witwen einfach
       fallen lässt.
       
       Mir persönlich tun beide Seiten dieser Tragödie leid – menschlich leid. Ich
       sehe es so: Zwei fast gleich alte Brüder (32 und 31 Jahre) müssen wegen der
       Launen der Herren ihres Landes gegeneinander antreten, das ist wie eine
       Neuauflage der biblischen Geschichte von Kain und Abel auf belarussisch.
       Und in dieser Geschichte gibt es zu viele Opfer. Sakrale Opfer.
       
       Und ich habe keine Ahnung, wie das zu stoppen ist, was im „roten Terror“
       enden kann. Denn schon jetzt sind Menschenrechtler*innen die Namen von
       84 Festgenommenen vom 29. und 30. September in Belarus bekannt. Die
       Mehrheit der Festnahmen hängt mit Kommentaren zu Nachrichten über den Tod
       des KGB-Mitarbeiters als Resultat der Schießerei in Minsk zusammen.
       
       Aus dem Russischen Gaby Coldewey
       
       19 Oct 2021
       
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