# taz.de -- Wie ein trockener Grashalm, der über die Gefängnismauer schwebt
       
       > Bachtyar Ali erzählt eine Parabel mit märchenhaften Motiven und
       > tragischem Hintergrund: „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“
       
       von Fokke Joel
       
       Wahre Heimatlosigkeit“, sagt Bachtyar Alis Held in „Die Stadt der weißen
       Musiker“, „sprengt die Kette, die uns an die Zeit kettet. Heimatlosigkeit,
       das heißt Unsterblichkeit, heißt: nicht in einer Zeit stecken bleiben,
       nicht in einer Ecke der Geschichte festsitzen. Heimatlosigkeit ist eine
       endlose Bewegung in alle Richtungen.“ Der aus dem irakischen Teil
       Kurdistans stammende Autor, der seit den 1990er Jahren im Exil in Köln
       lebt, macht so aus der Not eine Tugend. Auch in seinem neuen Roman, „Mein
       Onkel, den der Wind mitnahm“, geht es letztlich um Heimatlosigkeit.
       
       Erzählt wird die Geschichte von Djamschid Khan, der sich während seiner
       Schulzeit den irakischen Kommunisten angeschlossen hatte. 1979 wird er von
       den Schergen der Baath-Partei Saddam Husseins verhaftet und gefoltert. Wie
       Salar, der Neffe und Erzähler der Geschichte Djamschids, sagt, bleibt er
       zwar standhaft und verrät keinen seiner Genossen; aber er nimmt aufgrund
       der Misshandlungen und des Hungers im Gefängnis immer mehr ab, bis er am
       Ende nur noch Haut und Knochen ist.
       
       Und obwohl er später so viel vergisst, erinnert er sich bis zuletzt an
       seinen ersten Flug, mit dem er bei einem Gang über den Gefängnishof
       verschwand: „Ein Schwindelgefühl und eine unsagbare Angst befielen ihn. Wie
       ein trockener Grashalm kam er sich vor, federleicht vom Wind entführt und
       emporgerissen, hoch über die Gefängnismauern hinaus.“
       
       Märchen, so der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich, sind unsere
       realistischste Literatur. Denn unsere unbewussten Wünsche und Ängste, die
       in ihnen stecken, prägen unsere Realität mehr als unser Bewusstsein.
       Vielleicht akzeptiert man auch deshalb als aufgeklärter Leser so schnell
       die märchenhaften Elemente des Romans. Gleichzeitig ist der magische
       Realismus Bachtyar Alis Ausdruck der tragischen Geschichte der Kurden.
       
       „Das Problem ist“, hat er in einem Porträt des Österreichischen Fernsehens
       gesagt, „die Katastrophe ist bei uns so groß, dass sie unerzählbar geworden
       ist. Als Schriftsteller habe ich immer versucht, die Katastrophe, all
       dieses Unglück erzählbar zu machen.“
       
       Nach seinem Flug durch die Nacht stürzt Djamschid bewusstlos auf das Dach
       einer Autowerkstatt. Seine Familie nimmt ihn wieder bei sich auf und
       versteckt ihn in einem kleinen Dorf in den Bergen, aus dem sie stammt. Der
       Erzähler, sein nur drei Jahre jüngere Neffe Salar, wird vom Familienrat
       zusammen mit seinem gleichaltrigen Cousin Samil dazu verpflichtet, auf
       Djamschid aufzupassen.
       
       Die beiden sind die erste Wahl für diese Aufgabe, weil sie als Taugenichtse
       gelten. Salar hat nur Mädchen im Kopf, und Samir würde am liebsten seine
       Zeit mit dem Lernen und Lesen von Fremdsprachen verbringen. Beide haben
       keine Lust auf die Schule und sind bereits zweimal sitzengeblieben. Um
       Djamschid am neuerlichen Wegfliegen zu hindern, binden sie ihm ein Seil ans
       Bein. Weil Djamschid seine ursprüngliche Angst vorm Fliegen überwunden hat,
       lassen Salar und Samir ihn immer wieder wie einen Drachen zum Himmel
       aufsteigen.
       
       Doch trotz seiner beiden Aufpasser wird Djamschid immer wieder vom Wind
       mitgerissen. Beim Aufprall auf die Erde verliert er sein Gedächtnis. Er
       wird zum Heimatlosen, der nicht nur den Kontakt zur Erde verliert, sondern
       auch zu seiner Vergangenheit. Immer wieder beginnt er sein Leben neu. Immer
       wieder trägt ihn der Wind fort und lässt ihn beim Sturz auf die Erde alles
       vergessen. 1980 wird er von der irakische Armee entdeckt und zusammen mit
       Salar und Samir zu Aufklärungsflügen über die Schlachtfelder des Kriegs
       gegen Iran gezwungen. Danach kommt er unter anderem als Fluchthelfer in
       Istanbul auf die schiefe Bahn, wird als Attraktion von reichen Kurden wie
       ein Affe gehalten und erpresst Politiker in den sozialen Medien mit seinem
       aus der Vogelperspektive gewonnenen Insiderwissen.
       
       „Mein Onkel, den der Wind mitnahm“ ist eine Parabel. Die Heimatlosigkeit,
       zu der Djamschid Khan verurteilt ist, lässt sich auf das Schicksal aller
       Flüchtlinge übertragen, auch auf Bachtyar Ali selbst. „Das Einzige“, sagt
       sein Alter Ego Salar am Ende, „was mich jemals am Boden gehalten hat, waren
       diese Seile, an denen ich Djamschid Khan hielt. … Ich habe das Gefühl, dass
       mich der Wind wegwehen will. Ich halte mich fest, um nicht hinzufallen. Ich
       merke, dass sich eine große Angst vor Himmel und Wind in mir breitmacht.
       Damit Djamschid Khan nicht vergessen wird, … gehe ich schnell hinein, setze
       mich an den Schreibtisch und beginne zu schreiben.“
       
       9 Oct 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Fokke Joel
       
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