# taz.de -- Das Rauschen des Meeres in sich selbst entdecken
       
       > Jens Sparschuh interessiert sich für Stubenhocker auf großer
       > Gedankenreise wie Arno Schmidt oder Karl May. „Die Matrosen der Schweiz“
       > heißt denn auch sein neues Buch
       
 (IMG) Bild: Sich als Matrose verkleiden und ans Meer träumen – der Blick dieses Ballbesuchers passt gut zu Jens Sparschuhs neuem Buch
       
       Von Fokke Joel
       
       Jens Sparschuh ist ein Meister des hintergründigen Humors. „Die Matrosen
       der Schweiz. Ein Logbuch“ heißt sein neues Buch mit kurzen, verstreut
       erschienen Texten. Es sind Matrosen, so in der titelgebenden Geschichte,
       die davon träumen, „ihr bisheriges, zufälliges Leben kopfschüttelnd
       abzuwerfen, es einfach hinter sich zu lassen“, ihre Sachen zu packen und
       „in den nächstbesten pünktlichen Zug der Schweizer Bundesbahn zu steigen“,
       um ans Meer zu fahren. Doch es wird nichts aus dieser Reise, es kommt immer
       wieder etwas dazwischen. Ein Traum, der allerdings nicht fruchtlos bleibt,
       sondern immer wieder neue Geschichten gebiert. Geschichten, die davon
       erzählen, wie der Sprung aus dem aufgezwungenen, uneigentlichen Leben nicht
       gelingt. Wenn am Ende dann die Erkenntnis steht, dass das Meer, „ohne dass
       sie es geahnt hätten … nirgendwo anders als in ihnen“ selbst rauscht, dann
       gilt das nicht nur für die Matrosen der Schweiz.
       
       Es sind überwiegend Stubenhocker, für die sich Jens Sparschuh interessiert.
       Arno Schmidt zum Beispiel, der sich im niedersächsischen Bargfeld
       niederließ und – zum Leidwesen seiner Frau Alice – von dort nicht mehr
       wegzukriegen war. Reale Reisen, die er mehr gezwungen als freiwillig
       unternahm, waren für alle Beteiligten anstrengend oder eine Katastrophe.
       Aber wie aufregend seine Reiseberichte durch Sprache, Bücher und
       Zettelkästen! Sparschuh hat mehrmals Hörbücher Arno Schmidts besprochen; in
       dem über „KAFF auch Mare Crisium“ weist er darauf hin, wie gut dieses
       Medium einem gerade seine späten, durch Zeichensprache bereicherten Texte
       näherbringt, die ja als Schrift vor sprachlichen Stolpersteinen nur so
       wimmeln.
       
       Aber auch sonst sind die von Anlässen getriebenen Gedankensplitter
       Sparschuhs immer mit Gewinn zu lesen. Ob es sich um Erinnerungen an Peter
       Hacks, Irmtraud Morgner und Karl Mickel, Hommagen an Volker Braun und Irina
       Liebmann handelt oder der Bericht anlässlich von Uwe Timms Roman über die
       utopische Sekte der Ikarier, die er mit Erinnerungen an seine Zeit als
       Writer in Residenz am Grinnell College in den USA verknüpft: Irgendetwas
       ist in jedem Text überraschend, hat man als Leser so noch nicht gelesen.
       Manchmal kommt Sparschuh der spießigen Seite des alpenländischen Seemanns
       gefährlich nahe. Zum Beispiel da, wo er „Kunst kommt von Können“
       verteidigt, jenen Spruch gegen die „moderne“ Kunst. Aber Sparschuh ist
       Dialektiker, stellt das „Können“ in ein Spannungsverhältnis zum „Müssen“
       und zieht den Gedanken damit vom gemütlichen, dekorativ eingerichteten
       Wohnzimmer in die kalte raue Luft des Lebens.
       
       Karl May, von dem Sparschuh ein Hörbuch mit alten Lesungen aus den 1950er
       Jahren bespricht, ist vielleicht einer der berühmtesten Schweizer Matrosen.
       Jahrelang reiste er nicht nur im Kopf durch Amerika, sondern behauptete
       auch noch, dort gewesen zu sein. Warlam Schalamow dagegen wurde brutal zu
       dieser Art des Reisens gezwungen. Während der 17 Jahre im Gulag, von denen
       er in den „Erzählungen aus Kolyma“ berichtet, blieb ihm gar nichts anderes
       übrig, als im Kopf seine Freiheit zu finden. Hier kommen dem Leser die
       Russischkenntnisse Sparschuhs zugute. An Gabriele Leupolds Übersetzung
       Schalamows lobt er, dass sie „bestimmte Eigenheiten des russischen
       Satzbaus“ in ihrer Übertragung Schalamows „wachhält“, ohne in den Fehler zu
       verfallen, in einer wortwörtlichen Übersetzung einfach nur einen Text mit
       deutschen Worten und russischem Satzbau zu verfassen.
       
       Viele der Dichter- und Schriftstellerkollegen, über die Sparschuh schreibt,
       haben wie er in der DDR gelebt. „Die DDR ist das Land, darin ich leben
       will, aber muss“, zitiert er die „trotzige Selbstbehauptung“ des Lyrikers
       Richard Leising. „Keine Chance aber, dort je anzukommen, wenn man nie
       weggehen konnte. Das Eigene wurde einem fremd. Für den von seiner Natur her
       zur Schizophrenie, also dem Spaltungsbewusstsein, neigenden Dichter, ist
       das eine solide Arbeitsgrundlage. Wer von uns träumte nicht davon, ‚Ich‘ zu
       sagen – und ein ganz anderer zu sein.“
       
       Hier, auf der rauen See des Lebens, wurde es für die Matrosen der Schweiz
       dann allerdings prekär: „Für die meisten von uns aber war dieser Zustand
       ein ernsthafter Grund, unglücklich zu sein.“
       
       13 Nov 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Fokke Joel
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA