# taz.de -- Spotify-Jahresrückblick: My music, my business!
       
       > Spotify vergisst nie. Jeder Stream geht in die Statistik ein. Und am Ende
       > des Jahres gibt jede:r damit an. Zeit, das zu ändern!
       
 (IMG) Bild: Auch eine Lösung: Walkman von 1980
       
       Ich würde so gerne von mir behaupten, dass ich spartigen Deutschrap, guten
       britischen Hip-Hop und sonst auch mal ab und zu ein bisschen Techno höre.
       Das tue ich auch, wenn man mich fragt. Das Problem ist: Es ist nur die
       halbe Wahrheit. Ich habe nämlich eine Schwäche für schlechte Musik. Ich
       nenne sie meine Guilty-Pleasure-Musik. Ich höre sie am liebsten beim
       Autofahren, auf dem Weg zur Arbeit, nach dem Aufstehen, beim Sport. Das
       wäre auch alles kein Problem. Wenn man mich nicht dank [1][Spotify] ständig
       dabei erwischen könnte.
       
       Vor ein paar Tagen war ich auf dem Weg zur Arbeit. In der Bahn drehte ich
       die Kopfhörer gekonnt nur genau so laut, dass mein Sitznachbar auf keinen
       Fall mithören konnte (bei Airpods drittletzte Stufe!). Und trotzdem bekam
       ich ein paar Sekunden später eine Nachricht von einem Freund: „Haha schön
       mit Eko Fresh auf dem Weg zur Arbeit?“
       
       Er folgt mir bei Spotify. Der Musikrevolutions-App, bei der man sich ein
       Konto anlegen, ein paar Euro bezahlen und dann gefühlt alles streamen kann,
       was der Musikmarkt hergibt. Und weil ich ihm irgendwann mal erlaubt habe,
       mir zu folgen, kann er seitdem sehen, was ich gerade höre. Und zwar immer.
       [2][Er ist der Freshste auf der Welt, denn er ist jung und braucht das
       Geld.] Er lebe hoooooch. Es ist E K O… Ich drehe ein bisschen leiser, als
       würde das helfen.
       
       Natürlich gibt es Funktionen für mehr Privatheit. Ich könnte meine
       Follower:innen blockieren. Ich könnte eine „private Session“ starten,
       wenn ich nicht möchte, dass meine Freund:innen sehen, was ich gerade
       höre. Neulich wäre ein guter Moment dafür gewesen. Als ich beim Putzen
       Enrique Iglesias hörte, Bailandooooo. Aber eine „private Session“ zu
       starten fühlt sich an, wie beim Putzen alle Fenster und Türen abzudichten,
       damit der Nachbar nichts hört. Als hätte ich etwas verbrochen. Wen geht es
       überhaupt etwas an, was für Musik ich höre?
       
       Musik hören ist inzwischen wie wählen gehen. Eigentlich privat, aber
       irgendwie weiß es trotzdem jede:r. Spotify ist längst zu einer
       Profilierungsplattform geworden. Wo früher ein CD-Regal zu Hause stand,
       steht heute ein Spotify-Algorithmus. Er ist erbarmungslos. Er verzeiht
       keine Fehltritte. Und jede:r kann ständig dabei zusehen.
       
       ## Jahresrückblick – der Endgegner in Sachen peinlicher Musik
       
       Diese Woche war es wieder so weit: Der Spotify-Jahresrückblick wurde
       veröffentlicht, der Endgegner in Sachen peinlicher Musik. Ich erinnere
       mich, vergangenes Jahr war ich noch mutig. In meiner Spotify-Story postete
       ich den Song, mit dem ich laut Spotify „alles überstanden hatte“, meinen
       Song des Jahres: [3][Pietro Lombardi, Señorita]. Dazu schrieb ich: „2020.
       Keine weiteren Fragen“. Ich erinnere mich an die Heulen-vor-Lachen-Emojis,
       die ich als Reaktion bekam. Aber auch an die Nachricht einer Kollegin:
       „Gibt einem echt Kraft ne“. Ich habe damals einen Screenshot gemacht und
       ihn meinem besten Freund geschickt. Ich wollte ihm damit sagen: Siehst du,
       ich bin nicht alleine!
       
       Dieses Jahr hatte ich – neben der Vorliebe für Guilty-Pleasure-Musik – auch
       noch Liebeskummer. Dazu dank Corona überdurchschnittlich viele WG-Partys,
       an denen mein unbegrenztes Datenvolumen als DJ herhalten musste. Ich wusste
       also: Es musste schlimmer werden als Pietro Lombardi. Und es wurde
       schlimmer.
       
       Mein Top-Song natürlich eine Schnulze. [4][Was ich eigentlich nur damit
       fragen will, ist, schläfst du heut bei mir? Danger Dan]. Ich habe ihn 54
       Mal abgespielt. Unter meinen Top-Künstler:innen Justin Bieber und Ed
       Sheeran. Sonst fassen meine Top-Songs mein Jahr ganz gut zusammen. 2021
       irgendwo zwischen[5][Vermissen von Juju und Henning May]. Und [6][Perfekt
       von RAF Camora]. Hören Sie rein, dann wissen Sie, wovon ich rede.
       
       Einen kurzen Moment freue ich mich ein bisschen über die
       Rückblick-Playlist. Das war das Jahr in Musik. Ich denke an den Urlaub in
       Italien. Bulli. Sommer. Frank Ocean. Die Geburtstagsparty mit alten Hits
       von Sean Paul und Rihanna. An WG-Putzen mit Apache 207. Aus meinem Handy
       singt Pietro Lombardi: Du bist meine Cinderella ella eh. Baby du bist
       anders als die andern. Natürlich ist er auch dieses Jahr dabei. Ich muss
       grinsen.
       
       ## In den Instagram-Stories gibt es kein anderes Thema
       
       Dann entdecke ich unter jeder der quietschbunten Stories mit Statistiken
       meines schlechten Musikgeschmacks einen kleinen Button „Diese Story
       teilen“. Ein Klick also, und jede:r wüsste um meine Nächte mit den
       Schnulzen von Ed Sheeran. Um meine Autofahrten mit Justin Bieber. Ich
       könnte sogar meine „Audio-Aura“ teilen: „Deine Top-Musikstimmungen sind
       wehmütig und fröhlich.“ Dazu ein Bild in Polaroid-Optik in blau-rosa
       Färbung. Das ist es, was Spotify also will: den musikalischen
       Seelenstriptease.
       
       Und während ich noch dabei bin, meinen Rückblick mental zu verarbeiten und
       mir Ausreden auszudenken, warum ihn dieses Jahr wirklich niemand zu Gesicht
       bekommen wird, gibt es in den [7][Instagram]-Stories schon kein anderes
       Thema mehr: Nicht nur, dass Top-Hits, Top-Genre, Top-Künstler, Top-Podcasts
       geteilt werden. Es wird auch die Zeit gestoppt.
       
       Ich fühle mich wieder wie bei den Bundesjugendspielen in der Schule. Ein
       alter Freund aus der Heimat teilt in seiner Story seine gehörten Minuten:
       88.481. Dazu schreibt Spotify: „Das sind mehr als 98 % der anderen
       Hörer*innen in Deutschland“. Glückwunsch! Als hätten wir nicht schon
       genug Leistungsdruck.
       
       Sogar auf Twitter, der Profilierungs-Plattform für Journalist:innen und
       Politiker:innen, wird mit Rückblicken geprahlt. Natürlich anders. Mit
       Rekordminuten von Nachrichten-Podcasts zum Beispiel (3.365 Minuten „Was
       jetzt?“!). Mein Top-Podcast 2021 ist „Gemischtes Hack“. Zwei weiße
       Cis-Männer, die sich über irgendeinen Scheiß unterhalten.
       
       ## Spotify abzuschaffen ist auch keine Lösung
       
       Apropos Männer: Letztens hat mir eine Freundin von ihrem Date erzählt. Der
       Typ habe sie gefragt, ob er mal in ihr Spotify gucken dürfe. Ich lache, als
       ich die Geschichte höre. Was ein Idiot, denke ich. Aber insgeheim frage ich
       mich natürlich: Was hätte er wohl beim Anblick meiner von Spotify
       generierten Mixtapes gesagt?
       
       Mixtape 1: Jorja Smith, Tom Misch, Sampa the Great. Darauf wäre ich noch
       stolz. Mixtape 5: Kelis, Sugababes, Craig David. Die würde ich auf die
       letzte WG-Party schieben. Das wäre nicht mal ganz gelogen. Aber wie erkläre
       ich Mixtape 2? Das Bild von Bibi und Tina, in der Liste Pferdeabenteuer aus
       meiner Kindheit. Ich könnte es nicht auf meine Kinder schieben. Ich habe
       keine Kinder. Ich habe nur seit 30 Jahren die Tradition, mit Bibi
       einzuschlafen. Es beruhigt mich. Und Spotify versteht nicht, dass alte
       Kassetten keine Alben sind. Jetzt ist es raus.
       
       Spotify abzuschaffen ist trotzdem keine Lösung. Lieber würde ich die App um
       eine Funktion erweitern. Um einen neuen Button. Einen
       Guilty-Pleasure-Button. Ein
       Ich-höre-das-gerne-aber-bitte-merk-es-dir-nicht-Button.
       
       Wenigstens eine Freundin schreibt auf Instagram „Ich schäme mich nicht“
       über ihren Top-Song 2021: [8][Nelly Furtado, Maneater]. Super Song
       übrigens! Dann spült mir mein Instagram-Algorithmus (schon wieder
       Überwachung!) ein bekanntes Meme in die Timeline. Ein schöner Mann mit
       Sonnenbrille steht an einer Straßenecke und hält ein Pappschild hoch.
       Darauf steht in Großbuchstaben: „HÖRT AUF EUREN SPOTIFY JAHRESRÜCKBLICK ZU
       POSTEN. ES INTERESSIERT EH NIEMANDEN, WER EUER MEIST GEHÖRTER ARTIST IST.“
       
       Ich atme auf. Endlich jemand, der mich versteht. Dann schließe ich
       Instagram, öffne Spotify, drücke auf Play und schlafe zu vertrauter Stimme
       ein: Das sind Bibi und Tina, auf Amadeus und Sabrina. Merk’s dir doch,
       Spotify. Ich stehe dazu. Ich habe ja eh keine Wahl.
       
       5 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.spotify.com/de/
 (DIR) [2] https://youtu.be/DdZViIMaJnw
 (DIR) [3] https://youtu.be/lc-cnCRhE7c
 (DIR) [4] https://youtu.be/kjIL4lysSRk
 (DIR) [5] https://youtu.be/YHbYAUs9JCo
 (DIR) [6] https://youtu.be/XIc4LifDRVo
 (DIR) [7] /Neues-Gesetz-in-Norwegen/!5786531
 (DIR) [8] https://youtu.be/PLolag3YSYU
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Luisa Thomé
       
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