# taz.de -- Altersbestimmung bei jungen Geflüchteten: Falsches Misstrauen
       
       > Junge Geflüchtete müssen sich untersuchen lassen, wenn ihre
       > Minderjährigkeit bezweifelt wird. In Hamburg bestätigte sich 2021 kein
       > einziger Verdacht.
       
 (IMG) Bild: Wird zur Altersfeststellung durchgeführt: Röntgenbild der Hand wie hier in Friedrichshafen
       
       HAMBURG taz | Alle Zweifel waren unberechtigt: Die 42 jungen unbegleiteten
       Geflüchteten, deren Minderjährigkeit in diesem Jahr in Hamburg infrage
       gestellt wurde und die sich daher einer Untersuchung unterziehen mussten,
       sind unter 18 Jahre alt. Das ergibt sich aus einer Antwort des Senats auf
       eine Anfrage der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft.
       
       Die medizinische Altersfeststellung wurde damit bei zehn Prozent der
       unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten durchgeführt; insgesamt seien in
       diesem Jahr 442 in Hamburg in Obhut genommen worden, [1][heißt es in der
       Antwort weiter]. Kein einziges Mal stellte die Rechtsmedizin des
       Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Volljährigkeit fest. In elf der
       Fälle mussten die Betroffenen Widerspruch einlegen gegen eine zunächst
       andere Entscheidung.
       
       Carola Ensslen, flüchtlingspolitische Sprecherin der Linken in der
       Hamburgischen Bürgerschaft, findet das Vorgehen nicht okay, welches
       angewandt wird, wenn Geflüchtete keine Dokumente besitzen, aus denen sich
       ihr Alter zweifelsfrei ergibt. „Es ist ein vorprogrammiertes Misstrauen. Es
       wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass etwas Falsches gesagt wird.“ Das
       Verfahren sei belastend und nur „ausnahmsweise bei erheblichen Zweifeln
       gerechtfertigt“ – jedoch nicht angemessen für den Regelfall. Zehn Prozent
       untersuchte Jugendliche findet sie zu viel. Und die erfolgreichen
       Widersprüche zeigten, dass zu Unrecht gezweifelt worden sei.
       
       Die Volljährigkeit ist für junge Geflüchtete ein zukunftsweisender Moment,
       da ab dem 18. Lebensjahr eine andere Behandlung vorgesehen ist und auch das
       Dublin-Verfahren greift. Dieses besagt, dass Geflüchtete in das europäische
       Land zurückgeschickt werden können, in dem sie zuerst registriert wurden.
       Der Flüchtlingsrat Hamburg ist gegen das Verfahren: „Jeder muss die Wahl
       haben, in welches Land er oder sie gehen kann“, sagt Cornelia Gunßer. Sie
       ist Mitglied des Flüchtlingsrates und Landeskoordinatorin vom
       Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge.
       
       Die möglichen Folgen der Altersbestimmung können bei eingeschätzter
       Volljährigkeit gravierend sein, sagt Gunßer. „Das Üble ist, dass diese
       Geflüchteten alle ihre Rechte als Jugendliche verlieren. Sie können nicht
       mehr zur Schule gehen, müssen in großen Lagern wohnen und die meisten
       werden aus Hamburg wegverteilt.“
       
       Hinzu käme, dass die Untersuchungen zur Altersfeststellung [2][keine
       hundertprozentige Sicherheit] geben könnten, so Gunßer. „Eine
       Altersfeststellung gibt es nicht, auch medizinisch nicht. Es gibt nur
       Alterseinschätzungen. Bei Unsicherheiten muss zu Gunsten des Betroffenen
       entschieden werden.“ Das fordert auch Ensslen von der Linken.
       
       Die für das Verfahren zuständige Sozialbehörde und der Landesbetrieb
       Erziehung und Beratung sagen, dass dies bereits geschehe: „Zweifel werden
       zu Gunsten des Betroffenen ausgelegt, das heißt es wird jeweils das nach
       dem Gutachten geringste Lebensalter angenommen“, sagt die Sprecherin der
       Sozialbehörde, Anja Segert, die der taz für beide Behörden antwortet.
       
       Durch die Untersuchung bestehe der Erfahrung nach keine Gefahr der
       Retraumatisierung: „Die Beteiligten gehen sehr sensibel mit den jungen
       Menschen um.“ Die zu Untersuchenden würden immer von Mitarbeitenden des
       Kinder-und Jugendnotdienstes sowie einem Dolmetscher begleitet; optional
       auch von einem rechtlichen Beistand oder einer Vertrauensperson.
       
       Die Untersuchungen seien in der Regel schmerzfrei und stellten keinen
       erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit dar. Dass in 2021
       kein Zweifel durch eine Untersuchung bestätigt wurde, werde laut Segert
       nichts an der Prozedur ändern.
       
       Cornelia Gunßer war vor einigen Jahren bei Untersuchungen als Begleiterin
       dabei und kann den sensiblen Umgang nicht ausnahmslos bestätigen. Sie habe
       mitbekommen, dass die Betroffenen nicht verstehen, warum sie untersucht
       werden, ohne krank zu sein.
       
       ## Entwürdigende Untersuchungen
       
       Sie habe auch schon von Fällen gehört, bei denen sich beispielsweise
       weibliche Geflüchtete vor männlichen Ärzten nackt hatten ausziehen müssen.
       Dass inzwischen durchgesetzt wurde, dass pädagogische Fachkräfte und
       Dolmetscher*innen beteiligt sind und den Betroffenen erklärt wird, wie
       Widerspruch möglich ist, sieht sie als Verbesserung.
       
       Auch für Menschen, die 18 Jahre oder wenig älter sind, sieht Ensslen das
       Dublin-Verfahren kritisch: „So junge Menschen zurückschicken zu wollen,
       finde ich angesichts oft schwieriger Fluchtwege schikanös. Man will sich
       der Leute entledigen.“ Auch ein 18-Jähriger brauche Betreuung und
       Unterstützung. Selbst wenn also jemand fälschlicherweise minderjährig
       geschätzt würde, sei dies „kein Weltuntergang“.
       
       15 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/77993/betreuung_von_unbegleiteten_minderjaehrigen_gefluechteten_hat_der_senat_im_blick_dass_mehr_junge_menschen_zu_uns_kommen.pdf
 (DIR) [2] /Umstrittene-Altersdiagnostik/!5472035
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Emmy Thume
       
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