# taz.de -- 100 Tage Rot-Grün-Rot in Berlin: Was geht, Senat?
       
       > Die rot-grün-rote Landesregierung hat ihre ersten 100 Tage ohne große
       > Pannen absolviert. Belastungsprobe wird nun die Expertenkommission zur
       > Enteignung.
       
 (IMG) Bild: Hat den Hut auf und weiß, wo's lang geht: Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey, SPD
       
       Am späten Donnerstagvormittag will der Senat bei einer Pressekonferenz
       bilanzieren, wie seine ersten 100 Tage verlaufen sind: jene Tage, die gern
       als Messlatte nach einem Neustart heran gezogen werden – obwohl sie mit dem
       Omen behaftet sind, dass ebensolche 100 Tage Napoleon in die [1][Niederlage
       von Waterloo] führten.
       
       Wobei: Der Senat? Genau genommen wird vorrangig Franziska Giffey (SPD) das
       tun, die fast [2][omnipräsente Regierungschefin], und eine aus ihrer Sicht
       erfolgreiche Bilanz ziehen. Äußern dürfen sich dann noch die beiden, die
       neben ihr vor den Journalisten sitzen sollen: ihre bislang weit weniger
       sichtbaren Stellvertreter [3][Bettina Jarasch (Grüne)] und [4][Klaus
       Lederer (Linkspartei)].
       
       Die Bilanz hat allerdings einen Haken: Der seit Dezember amtierende
       rot-grün-rote Senat hat dafür nicht etwa wie der sagenhafte Herkules von
       missliebiger Seite schier unlösbare Auflagen aufgeladen bekommen. Nein,
       Berlins Landesregierung hat sich selbst [5][jene 40 Punkte] ausgesucht, die
       Giffey nun als erledigt oder auf den Weg gebracht präsentieren wird. Das
       passierte bei der Klausurtagung des Senats Anfang Januar, und darunter sind
       auch ein paar Selbstverständlichkeiten: etwa, die Coronalage zu bewerten
       und Strukturen anzupassen. Oder den seit Jahresbeginn überfälligen
       [6][Haushaltsplan 2022/23] vorzulegen, für den es schon im Sommer einen
       Entwurf gab.
       
       Diese 40 Punkte sind also erledigt – nicht aber, was sich aus ihnen ergibt.
       Das gilt vor allem für den 32. Punkt auf dieser selbst verfassten
       To-do-Liste. Denn der heißt: „[7][Expertenkommission Vergesellschaftung“].
       Was dahintersteht, könnte man in Zeiten, in denen martialische Vergleiche
       nicht sofort an den Krieg in der Ukraine erinnern, mit einer tickenden
       Zeitbombe vergleichen. Am Dienstag dieser Woche eingesetzt, in seiner
       Besetzung von der taz schon eine Woche zuvor exklusiv öffentlich gemacht,
       soll dieses Gremium den Senat befähigen, die Umsetzung des
       Enteignungs-Volksentscheids vom September zu klären.
       
       Nach Plan wird die Kommission ein Jahr lang tagen und dann eine Empfehlung
       abgeben, auf deren Basis der Senat entscheidet. Schon die jetzige Stimmung
       in der auf Enteignung festgelegten Linkspartei spricht dafür, dass ein
       anders lautender Beschluss das Ende der Koalition wäre. Die Alternativen:
       aussteigen oder weiterregieren und vielen Anhängern fortan als Verräter
       gelten – die Partei hatte den Volksentscheid in den Mittelpunkt ihres
       Wahlkampfs gestellt.
       
       Wie auf Bundesebene für das nur 14 Tage länger regierende Ampelbündnis
       hatte auch für die Berliner Koalition alles anders kommen sollen: eine
       auslaufende Coronapandemie begleiten, Druck bei der Mobiltätswende machen,
       beim Wohnungsbau schneller und einiger sein als der vorige Senat. Gerade
       die Grünen mit Verkehrssenatorin Bettina Jarasch hatten sich viel
       vorgenommen.
       
       Doch wie damit durchdringen, wenn erst in nie gehabte Höhe steigende
       Inzidenzen und nun Ukrainekrieg und Flüchtlinge die Schlagzeilen bestimmen?
       Wie argumentieren, dass nächster Generationen wegen Umdenken, mehr
       Klimaschutz und vielleicht auch Verzicht nötig sind, wenn sich Menschen
       fragen, ob es angesichts nuklearer Bedrohung überhaupt eine Zukunft gibt?
       Jarasch schafft es bei allem Bemühen nur vereinzelt, mit ihren Themen
       durchzudringen, aktuell dank des auf Bundesebene beschlossenen
       9-Euro-Tickets und neuer Rad- und Busspuren.
       
       Giffey dominiert alles, vertritt den Senat anders als ihr Vorgänger und
       Parteifreund Michael Müller in jeder Pressekonferenz nach den
       Senatssitzungen. In der jüngsten Meinungsumfrage vorige Woche, erst der
       zweiten nach der Abgeordnetenhauswahl, hat sich das allerdings nicht
       ausgezahlt: Ihre SPD liegt hinter den Grünen, gleichauf mit der CDU.
       
       Senatsscheidungen erklärt Giffey ausführlich und alltagsnah. Aber nicht
       immer ist das, was sie dabei sagt, auch fundiert. Zu Jahresbeginn machte
       sie [8][in migrantischen Communities noch Impfpotenzial] aus, kündigte eine
       Motivationskampagne an und setzte sich eine Messlatte, die nicht im
       100-Tage-Programm steht: die Impfquote bis Ende Januar von 75,3 auf 80
       Prozent zu bringen.
       
       Daraus wurde nichts: Noch in dieser letzten Märzwoche liegt die Impfquote
       erst bei 77 Prozent. Giffey aber spricht währenddessen durchaus schon mal
       von 80 Prozent – sie hat dann einfach die Berechnungsgrundlage verändert
       und jüngere ungeimpfte Kinder außen vor gelassen. In einer jener
       Pressekonferenzen meinte sie zudem auf eine Nachfrage, mit den Coronaregeln
       würden am 1. April auch Isolation und Quarantäne abgeschafft – immerhin
       verbunden mit dem Nachsatz, ihre Sprecherin würde das nochmal prüfen. Die
       meldete sich auch einen Tag später und revidierte. Einen großen Nachhall
       hatte keines von beidem.
       
       ## Die souveräne Neue
       
       Die Dominanz der Chefin ist auch daran abzulesen, wie sehr oder wie wenig
       andere Regierungsmitglieder in Erscheinung treten. Bis Mitte Februar saß
       regelmäßig [9][Gesundheitssenatorin Ulrike Gote] neben Giffey in den
       Pressekonferenzen nach den Senatssitzungen. Sie, die gerade aus Kassel
       Zugezogene, war plötzlich über Wochen das prominenteste Gesicht der
       Berliner Grünen, nicht etwa Vizeregierungschefin Jarasch – und hinterließ
       einen überraschend souveränen Eindruck, umso mehr, weil völlig neu in der
       hiesigen Landespolitik.
       
       Mit Ausbruch des Krieges in der Ukraine wechselte die Nebenrolle: Seither
       ist [10][Sozialsenatorin Katja Kipping] von der Linkspartei regelmäßig
       neben Giffey zu sehen, und bis auf die kurzzeitige Unklarheit, dass Helfer
       Flüchtlingen eine Unterbringung nicht für zwei Jahre, sondern für sechs
       Monate bescheinigen müssen, scheint die Chemie zwischen diesen beiden zu
       stimmen. Überhaupt gibt es für das Krisenmanagement des Senats von den
       Hilfsinitiativen durchaus auch Lob, ganz anders als 2015.
       
       Die ersten 100 Tage des neuen Senats sind an diesem Donnerstag also vorbei.
       Sie haben nicht in einem Waterloo geendet, nicht im Ende der Koalition.
       Aber wegen der Enteignungsfrage bleibt dieser Weg offen. Neuwahlen dürfte
       bei einer auch in einem Jahr mutmaßlich noch angespannten Stimmung keiner
       anstreben, die FDP stünde als Ersatz bereit. Dass Giffey und deren
       Fraktionschef Sebastian Czaja ganz gut miteinander könnten, zeigt sich
       wiederholt in frotzeligen Wortwechseln im Parlament, wo Giffey Czaja viel
       mehr wahrnimmt als den formellen Oppositionsführer von der CDU. Grüne und
       linke SPDler wären da weniger zugeneigt. Aber im Fall Waterloo bräuchten
       auch sie einen neuen Partner.
       
       30 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
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