# taz.de -- Patente für Corona-Impfstoffe: Komplett daneben
       
       > Der Kompromiss zur Patentaussetzung verfehlt das Ziel einer globalen
       > Impfgerechtigkeit. Gleiche Rechte für alle sehen anderes aus.
       
 (IMG) Bild: Nur rund 15 Prozent der Menschen in einkommensniedrigen Ländern haben eine Erstimpfung erhalten
       
       Es ist über 500 Tage her, dass die Regierungen von Südafrika und Indien
       inmitten der sich ausbreitenden Covid-19-Pandemie einen von globalen
       Prinzipien geleiteten Antrag an die Welthandelsorganisation (WTO) zur
       vorübergehenden [1][Aussetzung der Patente] gestellt haben. Während mehr
       als 100 Länder vor allem aus dem globalen Süden den Antrag unterstützten,
       verteidigte die Mehrheit der Industrienationen die Interessen der
       Wirtschaft und lehnte den Antrag ab.
       
       Mittlerweile liegt ein Kompromissvorschlag vor, verhandelt von der EU, den
       USA, Indien und Südafrika. Spoiler: Das Ziel einer globalen
       Impfgerechtigkeit verfehlt er drastisch. Zur Erinnerung: Gebraucht wird, so
       argumentieren Indien und Südafrika in ihrem ursprünglichen Antrag, eine
       global vereinbarte Verzichtserklärung, der sogenannte Waiver, für Patente
       und andere Rechte des geistigen Eigentums auf Covid-19-Medizinprodukte.
       Diese soll gelten, bis die Pandemie überwunden ist.
       
       Verbunden mit einem Technologietransfer könnte so die Produktion massiv
       ausgeweitet werden, und dies zu viel geringeren Kosten als bisher. Der
       Waiver böte darüber hinaus Rechtssicherheit vor Klagen der Pharmaindustrie.
       Der nun vorgelegte „Kompromiss“ bestätigt im Wesentlichen die bisherigen
       Positionen der USA und der EU. Er ist in mehrfacher Hinsicht unzureichend.
       
       Zum einen soll er nur für Impfstoffe gelten, nicht aber für Therapeutika
       und Diagnostika zur Identifikation und Behandlung von
       Covid-19-Erkrankungen. Gerade in Ländern, die bis heute nicht
       flächendeckend mit Impfstoffen versorgt sind, ist das ein riesiges Problem.
       Eine gezielte Teststrategie aber böte gerade in den Ländern, in denen ein
       fortgesetzter Lockdown zu Verarmung und Hunger beiträgt, einen besonders
       wichtigen Schutz.
       
       ## Impfstoffe, Diagnostika und Therapeutika
       
       Auch die neu entwickelten [2][Medikamente zur Behandlung von Erkrankten]
       müssen verfügbar und erschwinglich sein, um zu verhindern, dass Menschen
       sterben, weil sie kein Geld für die durch Patente überteuerten Medikamente
       haben. Der Kompromissvorschlag verkompliziert zweitens das im
       Trips-Abkommen vorgesehene Verfahren der Erteilung von Zwangslizenzen ohne
       Zustimmung der Patenthalter.
       
       Dabei wäre eine schnelle Ankurbelung der Produktion überlebensnotwendig,
       auch um weitere Mutationen zu verhindern. Bislang haben nur rund 15 Prozent
       der Menschen in Ländern mit niedrigem Einkommen eine Impfdosis erhalten.
       Dort wurden in den vergangenen Monaten weniger Erstimpfungen verabreicht
       als in Ländern mit hohem Einkommen Auffrischungsimpfungen. Die
       Covid-Pandemie endet aber nicht, nur weil in Europa ausreichend Dosen
       vorhanden sind.
       
       Es ist gut, dass Moderna die Patente freiwillig aussetzt. Allerdings sollte
       das angesichts von 17 Milliarden Dollar, die in den letzten Jahren aus
       öffentlichen Mitteln in den Konzern geflossen sind, nicht als große
       humanitäre Geste überinterpretiert werden. Besonders bedenklich ist
       drittens der Vorschlag, dass die Patentaussetzung nicht für alle Länder
       gleichermaßen gelten soll. Vielmehr soll sie auf sogenannte
       Entwicklungsländer beschränkt sein, die 2021 weniger als 10 Prozent der
       weltweiten Impfstoffdosen exportiert haben.
       
       Erinnert sei an dieser Stelle daran, dass ein erheblicher Anteil der
       Impfdosen von AstraZeneca in Indien produziert wurde. Wenn es bei der
       Diskussion über die Ausweitung der Produktion und den gleichberechtigten
       Zugang zu Impfstoffen geht, ist es unverantwortlich, Länder mit erheblichen
       Produktionskapazitäten wie Brasilien auszuschließen.
       
       ## Millionen Tote werden in Kauf genommen
       
       Im Umgang mit der Pandemie zeigen sich seit zwei Jahren die systemischen
       Rahmenbedingungen des politischen Arrangements neoliberaler Globalisierung.
       Um den Wissensvorsprung der Industrieländer unangetastet zu lassen, wird
       die Verlängerung der Pandemie mit Millionen Toten billigend in Kauf
       genommen und mit postkolonialer Rhetorik verschleiert.
       
       Jetzt sei die „Zeit der Heilung zwischen den beiden Kontinenten“,
       unterstrich EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen während des
       [3][EU-Afrika-Gipfels im Februar] und klammerte einen Atemzug später die
       Aussetzung von Patenten explizit von dem „Heilungsprozess“ aus. Südafrikas
       Präsident Cyril Ramaphosa entgegnete: „Was uns aus der Pandemie
       herausführen wird, sollte als öffentliches Gut betrachtet werden. Wir
       wollen keine Brosamen von irgendjemandes Tisch erhalten.“
       
       Nun werden die Länder des Südens mit einem Kompromiss, der keiner ist, in
       die Knie gezwungen. Verbesserungen scheinen kaum mehr möglich, weitere
       Verschlechterungen durchaus. Das Problem: Hat man einen Whisky einmal mit
       Wasser verdünnt, lässt sich das nicht mehr rückgängig machen. Der
       Öffentlichkeit aber wird ein gut gefülltes Glas präsentiert. Genauso hat
       strategische Befriedungspolitik im Interesse der Wirtschaft immer wieder
       funktioniert:
       
       Nachdem z. B. das Abkommen zum Verbot von Antipersonenminen unterzeichnet
       war, ließ sich die Ächtung von Antifahrzeugminen nicht mehr auf die
       politische Agenda setzen. Nach dem [4][Kimberley-Prozess] gegen
       Konfliktdiamanten galt das Problem als erledigt, obwohl es das Papier nicht
       wert war, auf dem es geschrieben wurde. Jetzt ist der letztmögliche Moment,
       um öffentlich deutlich zu machen, dass dieser „Kompromiss“ nicht annehmbar
       ist.
       
       Eine Gruppe südafrikanischer Wissenschaftler:innen und
       Nichtregierungsorganisationen haben Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa
       inzwischen aufgefordert, dem Vorschlag in seiner jetzigen Form nicht
       zuzustimmen und weiterhin die Entschlossenheit zu zeigen, die zu einem
       sinnvollen Verzicht führen könnte. Nein zum Scheinverzicht auf Patente
       heißt es in dem Schreiben.
       
       Seinen Anspruch, Verteidigerin der Menschenrechte zu sein, kann Europa
       endgültig auf den Müllhaufen der Geschichte werfen, wenn es nicht endlich
       beginnt, das Versprechen einer globalen und sozialen Ordnung mit gleichen
       Rechten für alle zu verwirklichen.
       
       20 Apr 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Corona-und-der-Westen/!5745190
 (DIR) [2] /Entwicklung-von-Coronamedikamenten/!5808830
 (DIR) [3] /EU-Afrika-Gipfel/!5833507
 (DIR) [4] https://www.humanrights.ch/de/ipf/archiv/international/nachrichten/konfliktdiamanten-kimberley-prozess-gescheitert
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anne Jung
       
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