# taz.de -- Halbfinale der Champions League: „Gott soll es erklären“
       
       > Real Madrid sah schon geschlagen aus – und siegte dann in Nachspielzeit
       > und Verlängerung mit 3:1 über Manchester City. Im Finale wartet der FC
       > Liverpool.
       
 (IMG) Bild: Die Leidenschaft des Fußballs: Real Madrids Rodrygo und Vinicius Junior genießen den Sieg
       
       Am Tag danach suchten sie in der Stadt immer noch nach den idealen
       Vergleichen und Erinnerungen. Die Alten sprachen von den 1980er Jahren, als
       im Uefa-Cup die Gegner im Estadio Santiago Bernabéu reihenweise abgefiedelt
       wurden wie Borussia Mönchengladbach mit 4:0 nach 1:5 im Hinspiel. Alle
       präsent hatten sie noch das [1][Champions-League-Finale 2014] gegen den
       Lokalnachbarn Atlético mit dem erlösenden Kopfballtor von Sergio Ramos in
       der Nachspielzeit.
       
       Aber eigentlich mussten sie ja nur wenige Wochen zurückgehen, ins
       Achtelfinale und Viertelfinale dieser Saison. Auch da waren sie nach
       Schlusspfiff mit offenen Mündern dagestanden. Auch da lag in ihren
       Gesichtern der Zauber übersinnlichen Glücks.
       
       „Como no te voy a querer“, schmachteten sie ihren Klub in der Nacht zum
       Donnerstag immer wieder in ihren Gesängen an, „wie sollte ich dich nicht
       lieben?“ Das Privileg, in wenigen Wochen mehr solcher Momente zu erleben
       als andere in ihrem ganzen Leben. „Gott soll hinabsteigen und es
       erklären“, schlagzeilte die Madrider Marca am nächsten Morgen. „Und ewig
       grüßt das Murmeltier“ grollte derweil in Barcelona die Mundo Deportivo.
       
       Schon wieder also – und mehr denn je. Nachdem ein Hattrick von Karim
       Benzema ein verloren scheinendes Achtelfinale gegen Paris St.-Germain
       gedreht hatte und ein Außenristpass von Luka Modric mit Volleyabnahme des
       eingewechselten Rodrygo das ähnlich hoffnungslose Viertelfinale gegen
       Chelsea, gab es im Halbfinale gegen Manchester City nun tatsächlich
       Zuschauer, die schon vor dem Schlusspfiff nach Hause gingen. Es lief die
       90. Minute, und es fehlten zwei Tore, um überhaupt eine Verlängerung zu
       erreichen. Nichts sah danach aus, vielmehr hatten Verteidiger Ferland Mendy
       und Torwart Thibaut Courtois gerade erst zweimal auf der Linie klären
       müssen.
       
       ## Die Taktik des letzten Aufbäumens
       
       Real nutzte es als Initialzündung für ein letztes Aufbäumen. Auf rechts
       spielte sich noch einmal Dani Carvajal frei und flankte. In der 90. Minute
       spitzelte Rodrygo den Ball nach weiterer Ablage von Benzema ins Tor, und
       das Spiel war auf der mentalen Ebene angelangt und damit im Wohnzimmer von
       Real.
       
       Schon in der 91. Minute versenkte Rodrygo eine weitere Carvajal-Flanke mit
       dem Kopf. Ja, es gab dann noch eine Verlängerung, aber die wurde zu einer
       bloßen Prozession dessen, was jetzt sowieso schon feststand. Wie um
       Entscheidung und Leid nicht unnötig in die Länge zu ziehen, verursachte
       Ruben Dias gleich zu ihrem Beginn einen Elfmeter an Benzema. Reals
       Dauerheld – zehn Tore in sechs K.-o.-Spielen – verwandelte problemlos.
       
       „Versucht nicht, es zu erklären, lebt es einfach nur“, empfahl Courtois den
       Fans. „Was ist das?“, fragte Modric. „Diese Mannschaft ist ein ‚fucking
       joke‘“, twitterte Toni Kroos. Er meint die eigene. Deren sporthistorische
       Dimension wird ja nicht gerade kleiner dadurch, dass sie nicht nur diese
       Saison schon mehrfach erledigt schien – im Prinzip seit dem letzten ihrer
       vier Champions-League-Siege zwischen 2014 und 2018. Damals schloss sich der
       Reigen [2][gegen Jürgen Klopps FC Liverpool], gegen den es nun wieder geht.
       Unvergessen die Patzer von Torwart Loris Karius und das Foul des damaligen
       Real-Kapitäns Sergio Ramos, das Liverpools Star Mohamed Salah früh außer
       Gefecht setzte. Salah versprach kurz dem Madrider Abpfiff Revanche: „Wir
       haben eine Rechnung offen.“
       
       In Madrid hielten sie sich mit Sprüchen noch zurück. Genug hatten sie damit
       zu tun, ihr Nachtmahl einzunehmen wie Matchwinner Rodrygo, der im
       Restaurant von Dutzenden Fans akklamiert wurde, und um 3.49 Uhr noch
       twitterte: „Wie soll ich nach so einer Nacht schlafen?“ Der junge
       Brasilianer, nicht mal Stammspieler und auch am Mittwoch nur eingewechselt,
       personifiziert das irrationale Element von Madrids Aufholjagden.
       
       Und doch haben sich hinter der Serienproduktion von Fußballwundern auch
       gewisse Muster entwickelt. Es beginnt mit tagelangen Appellen an die Fans,
       es geht weiter mit einem ekstatischen Fanspalier für den Mannschaftsbus vor
       Spielbeginn, und diesmal kam sogar noch ein Motivationsvideo von Trainer
       Carlo Ancelotti dazu, der seinen Profis alle bisherigen Aufholjagden der
       Saison zusammenschnitt und forderte: „Eine mehr!“
       
       Kein anderes Team der Welt bewegt sich so gut in der taktischen Anarchie
       einer Schlussphase. Neu gegenüber den vergangenen Runden war allerdings,
       dass Real im Rückspiel gegen City auch bei normalem Spielverlauf mindestens
       ebenbürtig war. Spielerisch ist die Tendenz aufsteigend, nicht unwichtig
       für das Finale gegen einen psychologisch womöglich ebenbürtigen Gegner.
       Liverpools „Mentalitätsmonster“ (Klopp) gehören insofern auch zu Europas
       ganz altem Adel.
       
       5 May 2022
       
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