# taz.de -- Preise für Schwarze Künstlerinnen: Hegemonien entflechten
       
       > Von der „Betroffenenkunst“ zur Auseinandersetzung mit Diversität: Warum
       > Sonia Boyce und Simone Leigh in Venedig ausgezeichnet wurden.
       
 (IMG) Bild: Installation „Brick House“ der Künstlerin Simone Leigh
       
       „MeToo“ und die „Black Lives Matter“-Bewegung hätten die zeitgenössische
       Kunst weltweit verändert, schrieb Anfang dieses Jahres die Kritikerin der
       New York Times, Farah Nayeri. Zwei politische Bewegungen, die sich vor
       allem über die sozialen Netzwerke verbreiteten und während der
       Coronapandemie im Digitalen ausgetragen wurden.
       
       Bis nun letzte Woche in Venedig erstmals seit drei Jahren wieder eine Schau
       eröffnete, die zeitgenössische Kunst vom ganzen Globus in der Lagunenstadt
       physisch versammelte. Und auch wenn die Beiträge in 58 Länderpavillons
       schwerlich auf diese zwei Hashtags „MeToo“ und „Black Lives Matter“
       runterzubrechen sind, so scheinen beide politisch-medialen Bewegungen doch
       wie zwei Diskurswolken über den versammelten Ausstellungen zu schweben.
       
       Farah Nayeris Beobachtung scheint also zu greifen. In vielen Beiträgen
       geht es um das Entflechten von Hegemonien, Rassismen – und um alternative,
       kollaborativere Formen des Zusammenlebens.
       
       Und so gingen schließlich am letzten Samstag auch die Goldenen Löwen an
       zwei Schwarze Frauen, an Sonia Boyce für ihre Bespielung des britischen
       Pavillons und an die US-Amerikanerin Simone Leigh für ihre Monumentalfigur
       „Brick House“. Beide Künstlerinnen machen ihre schwarze und weibliche
       Identität zum Ausgangspunkt ihrer Arbeiten.
       
       Simone Leigh verknüpft afrikanische Mythen, die Geschichte der Sklaverei in
       den USA und teils traditionelles afrikanisches Handwerk in der Darstellung
       ihrer künstlerischen Figuren, die schon qua ihrer monumentalen Größe
       Aufmerksamkeit einfordern.
       
       ## Präsenz schwarzer Weiblichkeit
       
       Sonia Boyce sucht in ihren Installationen nach der Präsenz einer
       schwarzen Weiblichkeit in der britischen Gegenwartsgesellschaft. Und
       findet sie zumindest in der Popkultur. Im britischen Pavillon lässt sie
       vier Sängerinnen – People of Colour – in einem Londoner Tonstudio
       miteinander improvisieren, die im spontanen Singen und Zuhören ein
       sonisches Kollektiv bilden. Die Gewinnerinnen der Goldenen Löwen sind zwei
       Künstlerinnen, deren ästhetische Formulierungen von ihrer Identität als
       Schwarze Frauen kaum zu trennen sind.
       
       Von „Betroffenenkunst“ schrieb Kunstkritiker Hanno Rauterberg einmal in der
       Zeit, als 2017 plötzlich bei der [1][Documenta 14] vielfach Exponate
       auftauchten, in deren Zentrum die Identität ihrer Urheber:innen stand.
       Identität als Legitimation für die Kunst, so konnte man das damals
       verstehen.
       
       Unbekannt war bis dahin etwa die Künstlerin Máret Ánne Sara. Eine
       Vetreterin des indigenen Volk der Samen in Fennoskandinavien. Ihre
       düster-großen Installationen mit Rentierschädeln füllten 2017 die
       Documenta-Säle. Das Verständnis von einer Kunst, die sich auf Abstand hält
       und darin ihr ethisches und politisches Potenzial entwickelt, schien hier
       nicht mehr gegeben zu sein. Vielmehr ging es um die nahe, engagierte
       Erzählung der Vertreterin einer Minderheit.
       
       ## Ungleichheit und Ausschluss
       
       Auch jetzt ist auf der Venedig-Biennale Kunst von Samen zu sehen. Die
       Nordischen Pavillons haben sich gar zu einem Samí-Pavilion zusammengetan.
       
       Überreste von nordischem Wild sind hier als fragiles Mobile aufgespannt.
       Doch der Blick auf diese Kunst hat sich verändert, nicht zuletzt durch
       Bewegungen wie MeToo und Black Lives Matter. Die geradezu distanzlose
       Ansprache dieser Kunst schafft mitunter eine direkte Auseinandersetzung mit
       Personen und Kulturen, die Teil diverser Gesellschaften und Traditionen
       sind.
       
       Sonia Boyce ist die erste Schwarze Künstlerin, die bislang überhaupt den
       britischen Pavillon bespielt hat, Gleiches gilt für [2][Simone Leigh] im
       US-Pavillon. Gerade der Kunstbetrieb ist mitunter sehr von Ungleichheit und
       Ausschluss geprägt. Die Ehrung mit dem Goldenen Löwen für dezidiert
       schwarze feministische Positionen schafft jetzt die längst nötige
       Sichtbarkeit auf der großen internationalen Bühne.
       
       Man könnte auch wie der auf Martinique geborene Philosoph Édouard Glissant
       in seiner „Poétique de la Relation“ sagen: „Was meine Identität betrifft,
       um die kümmere ich mich selbst. Das heißt, ich werde es nicht zulassen,
       dass sie auf irgendeine Essenz reduziert wird. Zugleich werde ich
       aufpassen, dass sie mir nicht als Beimengung zu irgendeinem Amalgam
       abhandenkommt.“
       
       30 Apr 2022
       
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