# taz.de -- Essay über Religion: Religion als verbindende Kraft
       
       > In seiner posthum erschienenen Schrift beschwört der Philosoph Michel
       > Serres die große Erzählung, deren Ende die Postmoderne allseits verkündet
       > hatte.
       
 (IMG) Bild: Michel Serres war auch Mathematiker und einer der 40 „Unsterblichen“ der Académie française
       
       Man könnte meinen, [1][Michel Serres] hätte zwei Seelen in seiner Brust
       gehabt. Einerseits bekennender Großstädter, Mitglied der erlauchten
       Académie française, Professor an der kalifornischen Stanford University.
       Andererseits verwurzelt im regionalen französischen Katholizismus mit
       dessen Hang zur Volksfrömmigkeit.
       
       Die erste Seite des Philosophen und Wissenschaftshistorikers ist seit
       seinen Publikationen in den 1960er Jahren weithin bekannt. Die zweite muss
       sich der Leser zwischen den Zeilen selbst erschließen. Erst Michel
       Serres’ posthum erschienenes Buch „Das Verbindende – Ein Essay über
       Religion“ enthüllt die Urgründe eines Denkers, der stets quer zu den
       herrschenden Philosophieströmungen stand.
       
       Aus dem Buch des 2019 verstorbenen Philosophen erschließt sich, dass Serres
       mit den Katharern sympathisierte, die im 13. Jahrhundert in seiner
       okzitanischen Heimat eine Art Gegenkirche aufgebaut hatten: eine
       Gegenkirche, die auf Glaubensbruderschaft, Kritik an den kirchlichen Dogmen
       und Distanz gegenüber der römischen Amtshierarchie fußte.
       
       Gleichermaßen war er davon fasziniert, dass die Katharer nach den Idealen
       des Urchristentums lebten, dass sie Gewalt verachteten und eine Religion
       der Liebe predigten. Das passt zum 1930 geborenen Serres, der von sich
       sagte, er habe sich sein Leben lang an Hiroshima abgearbeitet.
       
       ## Philosophie und Religion
       
       „Bevor ich sterbe, wollte ich die Religionen meiner Kultur wiederlesen“,
       heißt es jetzt in Serres’ letztem Buch. Wer einige der früheren Bücher
       kennt, wird bemerken, dass die Religion sie wie ein untergründiges Rauschen
       begleitet. Schon früher las man erstaunt Sätze wie: „Die Religion bindet
       uns ständig zurück an die Große Erzählung der Welt, an den rhythmischen
       Herzschlag der Materie und des Lebendigen, an Erde und Himmel, Wasser und
       Feuer.“
       
       Das erinnert an die griechischen Naturphilosophen oder an Spinozas
       Pantheismus. Vieles, was bereits in „Der Naturvertrag“ von 1990 zu lesen
       war, kehrt jetzt wieder. Der Titel der Originalausgabe von „Das
       Verbindende“ lautet „Relire le relié“. Im Vorwort gibt es dazu den
       etymologischen Hinweis: relegere – wieder lesen; religare – verbinden. Das
       sind die beiden Sinnstränge, die in den Begriff Religion zusammenstreben.
       
       Michel Serres traut der Religion eine vereinigende Kraft zu, die imstande
       ist, die versprengten Teilbereiche unserer Wirklichkeit wieder
       zusammenzufügen. Entsprechend vergleicht er sie mit einem Haus, das uns
       allen Raum zum Leben gibt.
       
       ## Hegel und die Religion
       
       Ähnlich träumte in Deutschland um 1800 der junge Philosoph Hegel von der
       großen Synthesisleistung der Religion. Er nannte sie „neue Mythologie“ oder
       „Mythologie der Vernunft“. Allein diese Religion sei imstande, „die
       Mythologie philosophisch“ und die „Philosophie mythologisch“ zu machen. An
       der Schwelle zu einer neuen Zeit wurde die „neue Religion“ als allgemeine
       Freiheit und Gleichheit garantierendes Zukunftsprojekt ersehnt, ja sogar
       als „das letzte, größte Werk der Menschheit“.
       
       In „Das Verbindende“ richtet Serres den Blick allerdings mehr auf die
       antiken Mythen. Der Wissenschaftshistoriker möchte am liebsten die Trennung
       zwischen Religion und Wissenschaft rückgängig machen, nach dem Vorbild der
       großen Debatten der Neuzeit, als sich an den theologischen Fakultäten die
       Newton-Anhänger unter den Äbten fanden. In diesem Zusammenhang beschwört
       Serres immer wieder die „Große Erzählung“, deren Verlust die Postmoderne
       allseits ausgerufen hatte.
       
       Wenn Serres wieder und wieder griechische Mythen und Geschichten des Alten
       und Neuen Testaments liest, vertraut er der erzählerischen Kraft der
       Mythen, die er keineswegs im Gegensatz zu neueren wissenschaftlichen
       Forschungen sieht, und er vertraut den existenziellen Befindlichkeiten, die
       sie transportieren.
       
       So hört Serres bei ihrem Wiederlesen die Todesschreie Abels, den der Bruder
       Kain erschlägt, die Klagen Iphigenies, die von Agamemnon auf der Überfahrt
       nach Troja geopfert wird, und er sieht dem Tanz von Jephtas Tochter zu,
       bevor sie nichts ahnend ebenfalls vom Vater gemeuchelt wird. Und nachdem
       Serres die Steinigung der Ehebrecherin aus dem Johannesevangelium dem Buch
       voranstellte, kommentiert er: „Das Menschenopfer verbindet die Mörder
       untereinander.“ Diese blutige Spur verfolgt er bis in die heutigen
       Gesellschaften.
       
       ## Gewaltverzicht und archaicher Opferkult
       
       Von Illusionen keine Spur, wenn Serres schreibt, die Opferlogik der
       Religionen zeuge nicht allein von einem „Gott des Zorns und der Rache“,
       sondern ebenso von archaischen Gesetzen, die bis in die modernen
       Zivilisationen fortdauern. Dagegen entwirft der alternde Philosoph ein
       Verständnis des Neuen Testaments, das geprägt ist von Gewaltverzicht und
       der Aufgabe archaischer Opferkulte, vom Geist der Nächstenliebe und einer
       sanfteren Religion.
       
       Einer Religion, in der die Verkettung der Gewaltakte unterbrochen, die
       Unschuld des getöteten Abel und die Vergeblichkeit der Rache an Kain
       anerkannt wäre. Einer Religion, die dem Opfer abschwört, weil Christi Tod
       am Kreuz das letzte Menschenopfer ist. Selbstverständlich kann Serres diese
       Religion, die den „Kreislauf von Passion, Tod und Hass“ überwindet, nur
       gegen alle Erfahrung und mit Wissen um diese Erfahrung beschwören. Das
       bedeutet aber: Die Stärke seiner Beschwörung ist zugleich seine Schwäche.
       
       Michel Serres hält die Vision aufrecht, obwohl er weiß, dass die Katharer
       seinerzeit vors Inquisitionsgericht gezerrt und auf dem Scheiterhaufen
       verbrannt wurden. Denn die Historie ist kein Argument gegen die Vision.
       
       7 May 2022
       
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