# taz.de -- Religiöse Rechte in den USA: Herrschaft der Minderheit
       
       > Die politisch-religiöse Rechte in den USA hat gesiegt. Nach dem
       > Abtreibungsrecht widmet sie sich dem Abbau weiterer Bürgerrechte.
       
 (IMG) Bild: Stiller Protest nach der Entscheidung des Supreme Court
       
       Das verfassungsmäßig geschützte Recht auf [1][Abtreibung], das seit
       Jahrzehnten landesweit existierte, ist in den USA seit vergangener Woche
       Geschichte. Der [2][Supreme Court] legte die Entscheidung über das Recht
       auf Abtreibung in die Verantwortung der Bundesstaaten. Die Folgen für
       Frauen und Schwangere sind katastrophal und traten teils sofort ein.
       Insgesamt wird Abtreibung in etwa 26 Staaten ganz verboten oder so
       eingeschränkt, dass sie damit effektiv illegal wird.
       
       Doch das ist der religiösen und politischen Rechten noch nicht genug:
       Einzelne Bundesstaaten überlegen bereits, Schwangeren zu verbieten, eine
       Abtreibung in einem anderen Bundesstaat vornehmen zu lassen, wo sie noch
       legal sind. Andere versuchen, bestimmte Verhütungsmittel zu kriminalisieren
       und Abtreibung strafrechtlich als Mord verfolgen zu lassen. Ein kleiner
       Lichtblick: Bundesrichter haben entsprechende Gesetze in Louisiana, Utah
       und Texas gestoppt, wenn auch nur vorerst. Für den Moment nehmen die
       Kliniken dort nach Medienberichten ihre Arbeit also wieder auf, wenn auch
       eingeschränkt.
       
       Für die amerikanische Rechte war der Freitag letzter Woche ein Jubeltag.
       Einige von ihnen tauchten vor dem Obersten Gerichtshof auf, samt den
       passenden Schildern. „Abtreibung ist rassistisch – überzeug mich vom
       Gegenteil!“und „Abtreibung ist Mord“, war da zu lesen. Das Urteil des
       Obersten Gerichtshofs ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen politischen
       Projekts religiöser und erzkonservativer Gruppierungen. Für sie ist Amerika
       ein christliches Land – gegründet von und für [3][weiße Christen].
       
       Nur ein Christ – und zwar einer, der ihre eigenen rechtskonservativen
       Ansichten teilt – kann ein „wahrer“ Amerikaner sein. Schwarze
       Rechtskonservative sind gern gesehen – allerdings nur, wenn sie das
       politische Projekt der weißen, christlichen patriarchalen Hegemonie
       unterstützen. So schützt man sich zugleich vordergründig vor (begründeten)
       Rassismusvorwürfen. Diese Verschmelzung von nationaler und christlicher
       Identität ist das Herzstück des christlichen Nationalismus.
       
       ## White Supremacy als zentraler Bestandteil
       
       Bekannte Figuren des weißen Evangelikalismus wie der Prediger Jerry Falwell
       begannen erst Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre damit, sich den
       Kampf gegen Abtreibung auf die Fahnen zu schreiben. Davor hatte die
       Bewegung unter anderem gegen die Aufhebung der Segregation an Schulen und
       den drohenden Verlust des steuerfreien Status segregierter christlicher
       Privatschulen mobilisiert – sowie gegen die Ausweitung der Bürgerrechte und
       Feminismus. Die Koalition, die sie mit rechten Katholiken eingingen – die
       schon seit Jahrzehnten legale Abtreibung bekämpften –, um sich gemeinsam
       auf einen Kreuzzug gegen Abtreibung zu begeben, war folgenreich: Sie hat
       unter anderem zur aktuellen Besetzung des Supreme Court geführt.
       
       Es geht hier jedoch nicht um „ungeborenes Leben“, nicht um die Reduktion
       der Anzahl von Abtreibungen. Studien zeigen immer wieder, dass ein solches
       Verbot die Zahlen nicht sinken lässt – sondern die Anzahl derer, die bei
       illegalen Abtreibungen sterben, steigen lässt. Weshalb also will die
       religiöse Rechte Abtreibungen verbieten? Ihr geht es um Macht und
       Kontrolle: Innerhalb ihres Weltbilds haben Frauen (trans Männer, die
       ebenfalls schwanger werden können, existieren in dieser Vorstellung gar
       nicht) nur einen gottgegebenen Platz: zu Hause, als Mutter.
       
       Das Amerika des weißen, christlichen Nationalismus ist ein zutiefst
       patriarchales. Denn auch beim weißen, christlichen Nationalismus geht es
       vorrangig um Macht. Um politische Macht, aber auch um den Erhalt einer
       kulturellen Deutungshoheit. Und auch wenn sich die Antiabtreibungsbewegung
       gern als Erbin der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung sieht und sich deren
       Vokabular aneignet, ist White Supremacy ein zentraler Bestandteil.
       
       „Der Antiabtreibungsrhetorik liegt die Idee zugrunde, dass weiße Frauen
       mehr Babys bekommen sollten, um die weiße Nation aufzubauen“, sagte Dorothy
       Roberts, Direktorin des Penn Program on Race, Science & Society, gegenüber
       MSNBC. Die Agenda gegen Abtreibungen ist immer auch vor dem Hintergrund
       eines empfundenen demografischen Drucks zu sehen, den die amerikanische
       Rechte seit ihrer Entstehung spürt.
       
       ## Der Krieg geht weiter
       
       Schon damals war klar: Auf Dauer würde man keine numerischen Mehrheiten im
       Land mehr gewinnen können. Daher entschied man sich, statt die eigenen
       Positionen zu moderieren und mehr Wähler zu überzeugen, für den
       antidemokratischen Weg: die Festigung der Herrschaft einer Minderheit durch
       die Ausspielung oder Manipulation des amerikanischen politischen Systems.
       
       Es ist kein Zufall, dass die religiöse Rechte sich so um sinkende (weiße)
       Geburtenraten sorgt. Mittlerweile ist die Radikalisierung der Rechten so
       weit fortgeschritten, dass selbst der stille Teil laut gesagt wird. So, wie
       die Kongressabgeordnete Mary Miller es vergangene Woche auf einer
       Trump-Wahlkampfkundgebung tat: „Das war ein großer Sieg für weißes Leben“,
       verkündete sie anlässlich des Supreme-Court-Urteils unter dem Jubel der
       Menge, während Trump lächelte.
       
       Doch das politische Projekt der religiösen und politischen Rechten ist noch
       längst nicht am Ende angelangt. Wer glaubt, sie würden sich mit diesem Sieg
       zufriedengeben, irrt – und hört ihnen nicht richtig zu. Clarence Thomas,
       einer der Obersten Richter, bestätigt in seiner Stellungnahme zur
       Abtreibung das, wovor Expert*innen gewarnt hatten: dass der Supreme
       Court sich jetzt mit der Legalität von Verhütungsmitteln (Griswold v.
       Connecticut), der Kriminalisierung von Homosexualität (Lawrence v. Texas)
       und der gleichgeschlechtlichen Ehe (Obergefell v. Hodges) befassen müsse –
       implizierend, diese Urteile seien ebenfalls falsch gefällt worden. Die
       religiöse Rechte hat einen großen Sieg errungen. Aber der Krieg geht weiter
       – den haben sie den seit den 1950er Jahren festgeschriebenen Bürgerrechten
       bereits erklärt.
       
       1 Jul 2022
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Annika Brockschmidt
       
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