# taz.de -- Organisatorinnen über Briefe an Inhaftierte: „Einen Safe Space schaffen“
       
       > Jail Mail vermittelt Brieffreundschaften zwischen Inhaftierten und
       > Menschen in Freiheit. Manche suchen dabei Partner*innen, viele nur
       > Austausch.
       
 (IMG) Bild: Ein Blick aus der Haft: Brieffreundschaften mit Inhaftierten
       
       taz: Marie, Jana, ihr seid die Gründerinnen der Webseite [1][Jail Mail].
       Dort können Inhaftierte aus Deutschland und der Schweiz seit knapp einem
       Jahr Kontaktanzeigen schalten, auf die sich Menschen von „draußen“ melden
       können. Ihr organisiert [2][dann Brieffreundschaften.] 
       
       Marie: Genau. Dazu muss man aber sagen, dass es schon vorher eine Jail Mail
       Seite gab, die aber 2021 nach so einer TikTok-Sache offline ging.
       
       Einer TikTok-Sache? 
       
       M: Das war eine Art Social-Media-Trend. Junge Mädchen haben sich einen Spaß
       daraus gemacht, das Postfach mit Fake-Anfragen zu fluten, haben
       Brieffreundschaften mit Inhaftierten begonnen, um dann deren Briefe,
       Straftaten und Identitäten [3][auf TikTok] auszubreiten. Sie haben die
       ehrenamtliche Betreiberin der Seite mit Hassnachrichten überschüttet.
       Daraufhin hat sie Jail Mail eingestellt. Wir selbst hatten damals noch
       nichts mit der Seite zu tun. Mir ist nur irgendwann zufällig aufgefallen,
       dass es sie nicht mehr gibt. Das waberte mir tagelang durch den Kopf:
       Krass, jetzt gibt es in Deutschland einfach keine Alternative mehr für
       Inhaftierte. Das kann doch nicht sein! Irgendwann dachte ich: Na gut. Dann
       mache ich das jetzt eben.
       
       Das klingt sehr hemdsärmelig. 
       
       M: Das war es auch. Ich habe als erstes Infobriefe an alle 179
       Justizvollzugsanstalten in Deutschland geschickt und mein Vorhaben
       vorgestellt.
       
       Und? 
       
       M: Es kam keine einzige Reaktion, null. Also habe ich es über die
       Gefängnisseelsorger*innen probiert, die ja einen guten Draht zu den
       Inhaftierten haben. Da kamen dann die ersten Briefe mit Inseraten. Und
       irgendwann stand etwas über das neue Jail Mail in der Gefangenenzeitung der
       JVA Tegel, die komplett von Insassen geführt wird. Dann ging es richtig
       los. Und seither kriegen wir Briefe über Briefe mit Inseraten. Seit Kurzem
       haben wir die erste Frau auf unserer Seite, was uns sehr freut. Und jede
       Woche erreichen uns allein 50 bis 80 Briefe an Inhaftierte.
       
       Jana: Ich finde, diese Entstehungsgeschichte sagt schon viel über die
       Strukturen in deutschen Gefängnissen aus. Wer versucht, Kontakte zwischen
       „drinnen“ und „draußen“ zu fördern, kann sich auf die offiziellen Stellen
       nicht verlassen. Wenn man dort nachhakt, kommt keine Antwort oder es heißt:
       kein Bedarf. Da fragt man sich schon: Wer hat hier keinen Bedarf? Die
       Inhaftierten oder das JVA-Personal? Wer etwas erreichen will, muss also mit
       den Inhaftierten selbst in Kontakt treten. Vieles läuft dort
       selbstorganisiert.
       
       Und wie genau funktionieren die Brieffreundschaften? 
       
       M: Im Regelfall schicken uns Inhaftierte einen kurzen Text, in dem sie sich
       vorstellen. Den stellen wir dann auf unsere Webseite. Stand jetzt haben wir
       dort 178 Inserate. Auf die können sich Menschen von „draußen“ melden und
       wir stellen den Erstkontakt her. Was danach passiert, ist den Schreibenden
       überlassen – ob sich also ein regelmäßiger Briefwechsel entwickelt oder
       nicht.
       
       Aus Filmen und der Populärkultur kennt man sehnsüchtige Frauen, die sich im
       Briefwechsel in Serienmörder verlieben. 
       
       J: Ja, das ist das Klischee. Das ist aber nicht das, was wir mit unserer
       Seite erreichen wollen. Wir möchten keine Dating-Plattform sein. Und wir
       wollen nicht, dass sich Menschen, die eigentlich Lust haben, eine
       Brieffreundschaft mit jemandem in Haft zu führen, von einer solchen
       Vorstellung abschrecken lassen.
       
       M: Deswegen haben wir auch ein paar Änderungen im Vergleich zum früheren
       Jail Mail vorgenommen.
       
       Welche sind das? 
       
       M: Zum einen dürfen die Inserate keine sexistischen oder rassistischen
       Äußerungen enthalten. Darunter verstehen wir auch Kontaktgesuche, in denen
       es heißt: Ich suche weiblich, blond, Mitte 20, 90-60-90. Das kam anfangs
       nicht selten vor. Das ging so weit, dass Körbchengrößen beschrieben wurden.
       
       J: Damit Inhaftierte ihr Gesuch trotzdem einschränken können, gibt es für
       sie Möglichkeiten zum Ankreuzen. Also, ich suche: männlich, weiblich,
       divers, egal. Es sollte bei einer Brieffreundschaft natürlich eigentlich
       egal sein. Aber oft ist es das eben nicht.
       
       M: Und das ist ja auch verständlich. Wir haben beispielsweise mal einen
       Brief von einem Inhaftierten bekommen, der uns schilderte, dass er aufgrund
       von Erlebnissen in seiner Vergangenheit nicht von Männern angeschrieben
       werden möchte. Das respektieren wir. Abgesehen davon haben die meisten nun
       mal sehr viele männliche Kontakte in ihrem Gefängnisalltag. Da macht es
       Sinn, dass sie gerne mal etwas anderes möchten.
       
       Welche Regeln gibt es noch? 
       
       M: Wir fügen den Inseraten keine Fotos mehr bei. Stattdessen können die
       Inserent*innen uns eine eigene Kreation schicken, etwas Gemaltes oder
       Gebasteltes. Ein Foto ihres Lieblingsbuches oder ein Bandcover. Da gibt es
       keine Grenzen.
       
       Wieso das? 
       
       J: Um Chancengleichheit zu schaffen. Manche Inhaftierte möchten in diesem
       Kontext nicht mit ihrem Gesicht und dem vollen Namen auf der Website
       erscheinen. Diese Datenschutzbedenken können wir gut verstehen. Wir teilen
       sie sogar. Man sieht ja, was mit den Daten mancher Männer auf TikTok
       getrieben wurde. Diese vorsichtigen Inserent*innen, das ist unsere
       Erfahrung, bekommen aber deutlich weniger Briefe, wenn es gleichzeitig
       andere Kontaktanzeigen mit Foto gibt. Deshalb sorgen wir für gleiche
       Voraussetzungen für alle.
       
       Ist das nicht ein wenig bevormundend? Vielleicht wollen Inhaftierte und
       Briefeschreiber*innen eben einfach [4][eine Dating-Plattform] mit
       Fotos und allem Drum und Dran. 
       
       J: Natürlich haben wir darüber diskutiert. Und es gab auch vereinzelt
       Menschen, die unsere Änderungen doof fanden und uns geschrieben haben, dass
       sie unter diesen Umständen nicht mehr auf Jail Mail erscheinen möchten.
       
       M: Oder auch Frauen, die uns schrieben, dass sie die Fotos wieder haben
       möchten. Natürlich gibt es weibliche Briefeschreiberinnen, die explizit auf
       der Suche nach einem Partner im Gefängnis sind.
       
       J: Wir schließen diese Menschen auch nicht aus. Aber wir möchten auch nicht
       die verschrecken, die aus anderen Gründen Briefkontakte suchen. Wir wollen
       einen Safe Space schaffen, in dem sich alle wohlfühlen. Letztlich machen
       wir das alles in unserer Freizeit. Wir sind keine Dienstleisterinnen, kein
       Unternehmen, das damit Geld verdienen will. Wir machen das aus Überzeugung.
       Deshalb wollen auch wir uns mit dem Projekt wohlfühlen. Für uns ist das
       soziale und politische Arbeit. Wir wollen, dass sich Menschen von „drinnen“
       und „draußen“ kennenlernen. Was aus den Brieffreundschaften wird, liegt
       nicht in unserer Hand. Wenn Menschen sich verlieben, herzlichen
       Glückwunsch! Aber das ist nicht unser primäres Ziel.
       
       M: Im Übrigen ist es ein Irrtum zu glauben, alle Inhaftierten suchten auf
       Jail Mail die Frau fürs Leben. Ich hatte erst diese Woche den Brief eines
       Inhaftierten, der sein Inserat verlängern wollte. Und er schrieb sinngemäß:
       Hoffentlich klappt es diesmal. Weil ihn zuletzt wohl zwei, drei Frauen
       kontaktiert haben, die eine Beziehung suchten. Er aber nicht. Er wollte nur
       Briefe schreiben. Darauf hätten alle den Kontakt abgebrochen.
       
       Ein anderer Punkt, der sicher viele von einer Brieffreundschaft abhält, ist
       die Angst vor Straftäter*innen. Könnt ihr die nachvollziehen? 
       
       J: Wir verstehen diese Berührungsängste. Wie sollte es auch anders sein?
       Die Haftanstalten sind eine Welt, von der Bürger*innen in Freiheit
       völlig abgeschottet bleiben. So werden Ängste gesellschaftlich und
       politisch gefördert. Als seien das alles skrupellose Psychopath*innen
       und Sexualstraftäter*innen. Das ist nicht der Fall. Es gibt zu wenig
       Aufklärung, zu viel Scheu, zu viele Knäste überhaupt in Deutschland.
       
       M: Viele Interessierte schreiben uns: Ist das nicht total gefährlich? Soll
       ich meine Adresse da jetzt angeben? Deshalb gibt es bei Jail Mail die
       Möglichkeit, einem Inhaftierten erst einmal anonym zu schreiben. Wir sagen:
       Probier' es doch einfach und finde erst einmal heraus, was für ein Mensch
       dahintersteckt, was er vielleicht gemacht hat, oder wie es dazu kam. Wir
       wollen Barrieren und Vorurteile langsam abbauen.
       
       Wart ihr schon mal in einer Haftanstalt? 
       
       M: Ja, während eines Praxissemesters habe ich zwei Männer in Haft betreut.
       
       Was war dein Eindruck? 
       
       M: Uff. Das war echt bedrückend. Gitter vor den Fenstern. Totale
       Abschottung. Wir sind über den Hof gelaufen, da riefen schon die Ersten aus
       den Fenstern. So nach dem Motto: Da bewegt sich was, da ist was
       Menschliches! Da könnte man Kontakt aufnehmen!
       
       Sofort Interaktion. 
       
       M: Genau. Inhaftierte sollen bestraft werden. Darüber kann man streiten.
       Aber sie werden irgendwann auch wieder entlassen. Die Idee, jemanden zu
       isolieren und wegzusperren, mit dem Ziel, ihn zu resozialisieren – wie soll
       das funktionieren? Das ist ein Punkt, an dem wir ansetzen möchten. Wir
       wollen die Verbindung zwischen „drinnen“ und „draußen“ aufrechterhalten.
       
       J: Es geht uns auch um eine generelle Kritik am Konzept Haft. Menschen
       werden inhaftiert dafür, dass sie ohne Ticket fahren, dass sie
       Beschaffungsdruck haben. Das gilt nicht für alle. Aber es gibt sehr viele
       Menschen in deutschen Haftanstalten, bei denen soziale Arbeit ansetzen
       müsste.
       
       M: Dazu braucht es eine Verbindung zur Außenwelt. Nicht einmal Zuneigung,
       sondern einfach Kontakt. Die Einsamkeit ist oft sehr groß. Einer schrieb
       mir, er sei nun seit drei Jahren inhaftiert und für seine Familie und alten
       Freunde quasi tot. Er würde einfach gerne wieder mal wissen, dass sich
       jemand für ihn interessiert.
       
       4 Aug 2022
       
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