# taz.de -- Die Wahrheit: Kritik der kritischen Infrastruktur
       
       > In ganz Deutschland entsteht derzeit eine neue Bewegung, die sich für
       > gesellschaftlich unverzichtbar hält. Zum Beispiel in Nagelstudios und
       > anderswo.
       
       Wie hätten Sie es denn gerne? So mit Luftballon oder doch lieber mit
       Schlumpf?“ Marion Egolds kann in den Augen ihrer Kundinnen und Kunden lesen
       wie keine Zweite in unserer weiten Welt des Konsums. Egolds, 59 Jahre alt,
       gemütlich mollig und immer noch stolze Kettenraucherin, die ihren Job
       liebt, ist diplomierte Geschenkverpackungsbetreiberin auf Franchise-Basis
       in einem großen Essener Warenhaus. „Für mich ist kein
       Geschenkverpackungswunsch zu abgefahren oder geschmacklos – ich
       verwirkliche eben alles, was gewünscht wird. Bei mir gibt es keine Tränen,
       nur Freude.“ Die ehemalige Stenotypistin reicht dem Kunden jetzt eine
       XXL-Packung „Vegane Kondome“ im Schlumpfpaket über die Theke. Wieder hat
       sie jemanden sehr glücklich gemacht.
       
       Egolds begreift sich mit ihrem Geschenkverpackungsservice als
       „überlebenswichtige sozioökonomische Infrastruktur und damit Teil unserer
       aller kritischer Infrastruktur“, wie sie uns wenig später bei einem
       Brühkaffee in der Betriebskantine des Essener Warenhauses fachkundig
       erklärt. Deshalb ist sie jetzt wie hunderte, ja bald tausende
       Firmeninhaberinnen und -betreiber von allem nur denkbar Möglichen spontan
       eingetreten in die aus aktuellem Anlass (Putin pervers, irre Inflation,
       Bahn kaputt) gegründete bundesdeutsche Initiative „Wir Sind Die Wahren
       Kritis“, die wahrhaftig kritische Infrastruktur, kurz WSDWK.
       
       Egolds nimmt noch einen brühwarmen Schluck des Brühkaffees, den sie seit
       letztem Monat selbst zahlen muss in der Betriebskantine. Sie beschwert sich
       darüber nicht: „Ach, wissen Sie, es gibt ja immer Schlimmeres und noch
       Schlimmeres. Krieg zum Beispiel – oder/und Stromausfall.“
       
       Stromausfall, das ist das nächste Stichwort. Egolds gerät in Fahrt, auch
       jüngere Aktivistinnen und Aktivisten könnten von der tatkräftigen Brünetten
       noch etwas mitnehmen an unverstelltem Engagement. Wenn jene sie denn mal
       auf einen Brühkaffee kennenlernen würden.
       
       ## Zappenduster im Säckel
       
       „Jetzt stellen Sie sich mal vor“, skizziert Egolds, „die Stadtwerke
       Essen-Rüttenscheid, die es ja so gar nicht mehr gibt, die knipsen mir als
       Franchise-Geschenkverpackungsunternehmerin hier im noch hell erleuchteten
       Warenhaus den Saft, also den Strom, aus …“ – „… dann ist es zappenduster
       bei Ihnen“, folgern wir folgerichtig. „Genau, junge Frau, aber nicht, weil
       ich meine Stromrechnung nicht mehr bezahlen kann, sondern weil bei den
       Stadtwerken Essen-Rüttenscheid, die es ja so gar nicht mehr gibt, der
       Säckel für den Stromeinkauf aus Skandinavien oder sonst woher, also, weil
       der Säckel leer ist. Und wer ist die Gelackmeierte?“ – „Sie?“ – „Genau,
       ich, Marion Egolds“.
       
       Natürlich seien „technische Basisinfrastrukturen, die die Energie- und
       Trinkwasserversorgung wuppen, sowie die Abwasserentsorgung und den Verkehr,
       und damit klaro auch Absatz- und Lieferketten sichern“, man merkt, Egolds
       kennt sich aus, „also das ganze technische Gedöns ist schon wichtig“.
       Genauso „zentral“, wenn nicht noch „viel zentraler“, sei aber der Schutz
       der „sozioökonomischen Infrastruktur. Und deshalb sind wir die Die Wahren
       Kritis, die WSDWK'“. Noch Fragen?“
       
       Wir nicken mit dem Kopf, weisen Marion Egolds auf Ungereimtheiten in ihrer
       Argumentationskette hin. Man müsse, so jedenfalls sähen wir es, doch
       gleichzeitig auch die Stadtwerke Essen-Rüttenscheid, die es ja so gar nicht
       mehr gäbe, wenn man sie, Marion Egolds, richtig verstanden habe, also man
       müsse doch gleichzeitig die Stadtwerke Essen-Rüttenscheid „von staatlicher
       Seite retten und nicht nur ihren Geschenkverpackungsservice, Frau Egolds.
       Denn wo kein Strom, da kein Service.“
       
       Jetzt haben wir die gebürtige Wuppertalerin („Wuppertal-Bratwurst, eine
       prima sogenannte Ortslage, gute Frau, lassen Sie uns exakt bleiben“)
       geknackt, und dafür spendiert sie noch einen Brühkaffee im Garfield-Becher.
       Und versorgt uns mit wertvollen Adressen weiterer WSDWKler und
       WSDWKlerinnen im Ruhrgebiet sowie im Bergischen Land. „Schön, dass es doch
       noch eine Presse gibt, die sich für uns und unser Anliegen in diesen
       schweren Zeiten interessiert“, lobt uns Marion Egolds zum Abschied und
       beschenkt uns noch mit einer „Geschenkverpackung zum Selberverpacken. Geht
       auf mich, nicht aufs Haus.“
       
       ## Alarm im Nagelstudio
       
       Gerührt und mit viel Brühkaffee im Bauch steuern wir wenig später den
       ersten Infotipp von Egolds an. Es handelt sich um das Nagelstudio „Gülden
       Sun“ von Herrn und Frau Viet-Nam in Gelsenkirchen-Horst. „Komplexe
       Regulatorik und Regularien sowie akute Bedrohungsszenarien erhöhen
       Handlungs-Pressure für uns WSDWKler und WSDWKlerinnen“ – mit diesen
       alarmistisch klingenden, aber spürbar ernst gemeinten Worten empfängt uns
       Frau Viet-Nam am goldfarbenen Tresen ihres geschmackvollen Studios, gelegen
       in einer bereits halbdunklen Einkaufspassage, „wo Hälfte Läden schon
       dicht“, wie uns Herr Viet-Nam in putzigem, aber fast fehlerfreiem Deutsch
       aufklärt. Gastfreundlich erhalten wir auch hier im Nagelstudio „Gülden Sun“
       einen Brühkaffee, diesmal nach Hanoi-Art.
       
       Frau Viet-Nam zieht aus ihrem Nagelstudio-Desinfektionsautomaten eine in
       Schwarz-Weiß gehaltene Infobroschüre der WSDWK heraus. „Ganz frisch
       gedruckt, falls jetzt mal und immer öfter der Strom ausfallen wird, haben
       die Leute wenigstens was in der hoffentlich manikürten Hand, wenn schon das
       Internet dunkel bleibt“, sagt charmant die gebürtige Dortmunderin, die
       ihren Mann, Herrn Viet-Nam, bei „einem Strandurlaub auf Usedom vor jetzt
       auch mehr als 17 Jahren kennen- und lieben gelernt hat“.
       
       ## Total reale Bedrohungen
       
       Bei einem exzellenten Hanoi-Brühkaffee liest die 37-jährige gelockte
       Schönheit aus der Broschüre zum Mitnehmen vor: „Wir von WSDWK sehen uns in
       der aktuellen geopolitischen Lage von heute auf morgen und übermorgen total
       realen Bedrohungen ausgesetzt. Unsere Anlagen, also etwa Eckkneipen,
       Waldorfschulen, Dienstleistungseinrichtungen aller Art wie zum Beispiel
       Nagelstudios und Geschenkverpackungsservices sind beliebte Angriffsziele.
       Bitte helfen Sie uns! Unterstützen Sie unser sozioökonomisch total
       wichtiges Anliegen und werden Sie jetzt Mitglied bei uns, dem WSDWK. Eigene
       Kinder sind gratis!“
       
       Herr Viet-Nam nickt eifrig und beflissen – dass er eine Seele von Mensch
       ist, strömt aus allen seinen Nagelstudioporen. Wir danken für das
       erhellende und liebenswürdige Recherchegespräch und steuern die
       nahegelegenen „Lenau-Stuben“ in Gelsenkirchen-Horst an. Sowohl Herr und
       Frau Viet-Nam als auch Marion Egolds haben uns diese traditionsreiche
       Gelsenkirchener Eckkneipe mit HSV-Fußballfanbasis als Keimzelle und
       Stammsitz der WSDWK-Bewegung genannt. So wir zu fortgeschrittener Stunde
       die Tür zum Tresen öffnen, schallt es uns vielstimmig entgegen: „Nur der
       HSV, nur der HSV!“
       
       15 Oct 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Harriet Wolff
       
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