# taz.de -- Die Wahrheit: Schrumpfhoden in Australien
       
       > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (156): Die Knutts aus
       > dem Wattenmeer sind wahre Marathonflieger.
       
 (IMG) Bild: Calidris canutus läuft im Sommergefieder im Schlick
       
       Die Knutts gehören zur großen Schnepfenfamilie. Der nur bis zu 165 Gramm
       wiegende „Langstreckenzieher“ wurde möglicherweise nach dem skandinavischen
       König Knut dem Großen benannt, [1][vermutet Wikipedia]. Die Knutts brüten
       in der arktischen Tundra und fliegen dann in großen Schwärmen ans
       Mittelmeer, nach Afrika und Australien oder überwintern in Nordwesteuropa –
       mit einer Zwischenstation in Island. Die Populationen rasten unterwegs an
       Wattenmeerflächen und suchen dort als Wegzehrung für ihren Weiterflug
       Salzfliegen, Schnecken und Muscheln, deren Schalen sie in ihrem Muskelmagen
       zerbrechen.
       
       Mit schnellem Stochern seines Schnabels erzeugt der Knutt Druckwellen, „die
       von den harten Schalen einer Muschel zurückgeworfen werden, sodass der
       Vogel sie mit seinen dicht nebeneinanderstehenden Sinnesorganen in der
       Schnabelspitze wahrnehmen kann“, schreibt der US-Vogelforscher Scott
       Weidensaul. Er hat keine Kosten und Mühen gescheut, den Knutts und anderen
       Zugvögeln rund um den Globus zu folgen. In seinem Buch „Auf Schwingen um
       die Welt“ (2022) heißt es, dass die in Australien überwinternden Knutts
       zunächst nonstop rund 5.000 Kilometer nach China und Korea fliegen, wobei
       sie ihre gesamten Fettreserven verbrennen, „außerdem greifen sie auch ihr
       eigenes Muskel- und Organgewebe an, um den gewaltigen Energiebedarf der
       ständig arbeitenden Flugmuskulatur zu befriedigen.“
       
       Wenn sie in Schwärmen von bis zu 20.000 Vögeln am Gelben Meer eintreffen,
       sind viele innere Organe durch die Anstrengung geschädigt, ihr Körper hat
       sie verbraucht. Nur Gehirn und Lunge bleiben während ihres Marathonfluges
       verschont; „Am stärksten schrumpfen Darm und Salzdrüsen, die während eines
       derart langen Fluges ohnehin nur von begrenztem Nutzen sind.“
       
       In Australien waren den Männchen auch ihre Hoden geschrumpft, aber in
       Sibirien angekommen, schwollen sie wieder auf das Tausendfache ihrer
       winterlichen Größe an „und pumpen Testosteron ins Blut des Vogels“, dem
       dadurch sein Paarungsgesang „zu einem permanenten hormonellen Zwang“ wird.
       Bei den Weibchen wächst gleichzeitig „zur Vorbereitung der Paarung ein
       einzelner ausgereifter Eierstock heran (in der Regel der linke).“
       
       ## Um
       
       Um sich vor ihren Fressfeinden zu schützen, sind Zugvögel meistens Nachts
       unterwegs, wobei sie „abwechselnd mit je einer Hälfte des Gehirns schlafen
       und gleichzeitig tage-, wochen- oder sogar monatelang ununterbrochen
       fliegen“.
       
       Viele Ornithologen haben den Orientierungssinn der Zugvögel erforscht,
       unter anderem meinten sie, einen „Magnetsinn“ gefunden zu haben, ein „Gen“,
       oder dass sie sich visuell einen Plan vom überflogenen Gelände einprägten.
       Um den Flüssigkeitsverbrauch des Organismus zu berechnen, spritzten die
       Forscher ihnen Deuteriumoxid: Der Wasserhaushalt von Schnepfen blieb zu
       ihrer Überraschung auch nach einem langen Flug nahezu der Gleiche. Sie
       fliegen in 3.000 bis 3.500 Metern Höhe. Die niedrigeren Temperaturen oben
       bewirken bei ihnen einen geringeren Wasserverlust. Und um die dünnere Luft
       dort auszugleichen, steigt vor ihrer Wanderung die Zahl der roten
       Blutzellen, „sodass sie mit jedem Atemzug mehr Sauerstoff aufnehmen
       können“.
       
       Für solche „Fakten“ müssen die Küstenvogelforscher einige Tiere wohl oder
       übel vom Himmel geholt und auseinandergenommen haben. In Massen fangen sie
       diese Vögel aber auch mit Netzen, indem sie ihnen mit Tonbandgeräten und
       Lautsprechern ihre Lockrufe vorspielen, um sie dann zu beringen „und mit
       verschiedenen technischen Hilfsmitteln – Geolokatoren, Funksender,
       Infrarotaufnahmen, Meeresradar, Satellitensender und anderen Geräten –
       auszustatten, um ihre Zugwege zu verfolgen … Wie die von ihnen untersuchten
       Vögel, so bringen auch Küstenvogelexperten eine Menge Flugmeilen hinter
       sich.“
       
       ## Die
       
       Die Ornithologen investieren Millionen, um das Wissen über diese
       amselgroßen Zugvögel zu mehren und Maßnahmen zu ihrem Schutz einzuleiten.
       So kostet ein einziger Satellitensender mehrere Tausend Dollar und die
       Jahresgebühren für die Satellitennutzung weitere Tausende. Währenddessen
       verdienen die Jäger und Fallensteller Millionen an diesen schmackhaften
       Schnepfen, denen zudem Landgewinnung, Eindeichungen und
       Industrieansiedlungen zusetzen. Manchmal wundern sich die Ornithologen,
       dass es überhaupt noch Zugvögel in nennenswerter Zahl gibt.
       
       Da die Knutts bis zu 25 Jahre alt werden können, fliegen sie in ihrem Leben
       mehr als 100.000 Kilometer und überall lauert der Tod – durch Wilderer,
       Raubvögel, Wattverschmutzung, Orkane. Weidensaul erinnert an die
       Wandertauben, von denen es etliche Milliarden gab, die durch Nordamerika
       zogen und deren Schwärme den Himmel verdunkelten. Sie wurden innerhalb
       kürzester Zeit ausgerottet – bis auf eine, Martha, die 1914 im Zoo starb.
       
       Woran der Autor nicht erinnert, dass sind die zur Not oder vorwiegend sich
       von Insekten und Spinnen ernährenden Zugvögel, die sich wie sie von den
       Passatwinden tragen lassen. Es sind Tausende von Tonnen Kleintiere rund um
       den Globus, man spricht dabei von Luftplankton, der von Wissenschaftlern
       erforscht wird, die wiederum alle sich von diesen Kleintieren unterwegs
       ernährenden Zugvögel ignorieren. Dabei erwähnt Weidensaul bei den aus
       Alaska nach Süden ziehenden Schnepfen, dass sie ihren Abflug mit den
       Herbststürmen abstimmen, „denn die geben ihnen einen kräftigen Schwung und
       beschleunigen sie auf den ersten 800 bis 1.500 Kilometern ihres Fluges über
       den Pazifik. Später gelangen sie in den Bereich des australischen Passats,
       der sie ebenfalls von hinten auf den letzten 1.000 Kilometern unterstützt.“
       
       ## Von
       
       Von diesen Luftströmungen werden vor allem die Insekten mitgerissen. Den
       Mauerseglern, die außer zum Brüten und Füttern ihrer Jungen quasi in der
       Luft leben, kann man zusehen, wie sie in diesem ihrem Element Insekten
       jagen. „Der Himmel ist ein riesiges Habitat voller Leben“, meint die
       Vogelforscherin [2][Helen Macdonald]; für sie ist die „windgetragene
       Migration“ geradezu „eine Spezialität der Gliederfüßer“.
       
       Weidensaul versuchte sich in einen jungen Schnepfenvogel hineinzuversetzen,
       der zum ersten Mal in den Süden fliegt: Kommen ihm dabei so etwas wie
       Zweifel oder Ängste – während sich „sein Inneres neu sortiert“? Fragte er
       sich. Weil es aber keine Geräte gibt, mit denen man ihn ausrüsten könnte,
       um seine Gedanken und Gefühle aufzuzeichnen, fand er keine Antwort.
       
       Zwar hat die Miniaturisierung der Elektronik, vor allem die der
       Energieversorgung mit Batterien und Solarzellen, die Erforschung des
       Vogelzugs enorm vorangebracht, wie er meint, aber vielleicht begreifen wir
       den „Kreislauf von Paarung, Wanderung und Überwinterung“ bei den Zugvögeln
       immer noch zu sehr als erdverbundene Sesshafte?
       
       Soll heißen, dass ihre Flüge gar keine Ähnlichkeit haben mit unseren Flügen
       etwa in einem Airbus oder einer Boeing, mit denen es stumpfsinnig nur darum
       geht, eine Strecke von A nach B so schnell wie möglich zu überwinden. Für
       die Knutts und all die anderen Langstreckenzieher gilt vielleicht die alte
       nomadische Weisheit, dass der Zug das Ziel ist.
       
       24 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Knutt
 (DIR) [2] https://twitter.com/HelenJMacdonald?ref_src=twsrc%5Egoogle%7Ctwcamp%5Eserp%7Ctwgr%5Eauthor
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Helmut Höge
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Die Wahrheit
 (DIR) Helmut Höge
 (DIR) Tiere
 (DIR) Vögel
 (DIR) Die Wahrheit
 (DIR) Die Wahrheit
 (DIR) Die Wahrheit
 (DIR) Reptilien
 (DIR) Die Wahrheit
 (DIR) Die Wahrheit
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Wahrheit: Porno im Glashaus
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (159): Mit Pandas wird
       schmutzige Politik gemacht, und sie pflanzen sich schwer fort.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Ellenlanges Horn und noch viel mehr
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (158): Das Einhorn ist ein
       Fabeltier und blickt auf eine bewegte Geschichte zurück.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Immer auf Sendung dank Antennen
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (157): Riechende und
       schmeckende Hummer können bis zu 100 Jahre alt werden.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Die wollen doch nur spielen
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (155): Krokodile werden
       von menschlichen Horrorgeschichten verfolgt.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Ganz im Jetzt und ganz real
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (154): Philosophen und
       ihre Tiere, eine Art von Amour fou vom Feinsten.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Die im Unsichtbaren blühen
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (153): Algen sind
       chimärenhafte Wesen, die sich binnen kurzer Zeit verwandeln können.