# taz.de -- Die Wahrheit: Die Personenverfolgung
       
       > Wenn es so ist, dass Gegenstände verschwinden, also auch Menschen, und
       > das vor den Augen des Betrachters, und andere erscheinen von selbst: was
       > dann?
       
       Ursprünglich war geplant gewesen, den alten Hauptbahnhof zu
       „modernisieren“, doch dann hatte die private Bahngesellschaft sich aus
       Kostengründen dafür entschieden, die Stadt vom Streckennetz zu trennen.
       Damit das nunmehr obsolete Gebäude nicht zum Aufenthaltsort unerwünschter
       Randgruppen verkam, war der Bahnhof zugemauert worden.
       
       Seitdem gab es – erst vereinzelt, dann mit penetranter Häufigkeit –
       Berichte über Personen, die angeblich aus dem zugemauerten Hauptbahnhof
       „hervorgingen“. Es hieß, sie wiesen eine einfache Normalform von
       gleichmäßiger Konvergenz auf und seien vielleicht das Ergebnis der
       Hintereinanderschaltung von Drehung und Spiegelung auf Molekularebene.
       Besonders gern wurden diese Personen mit Phantastereien in Zusammenhang
       gebracht, zum Beispiel dem „geheimen Austausch von Menschen“.
       
       Dem nun Folgenden muss ich die Erwähnung einer speziellen Eigenart von mir
       vorausschicken. Hin und wieder verschwinden Gegenstände, also auch
       Menschen, vor meinen Augen, und andere erscheinen von selbst. Als ich mich
       eines Vormittags mit unklaren Absichten bei den kleinen kastenartigen
       Holzhütten auf dem früheren Bahnhofsvorplatz herumdrückte, beobachtete ich,
       wie eine fremde Person den zugemauerten Hauptbahnhof durch eine sonst nicht
       vorhandene, sich hinter ihr sofort schließende Öffnung verließ. Niemand
       außer mir war Zeuge.
       
       ## Unbemerkt hinein in den Hausflur
       
       Die dezent gekleidete Person trug eine Reisetasche. Als gehende Frau
       bewegte sie sich zielstrebig zwischen den Holzhütten hindurch in Richtung
       Innenstadt. Sehr vorsichtig folgte ich ihr ins Stadtzentrum, wo sie den
       Seiteneingang eines Kaufhauses betrat. Ich schlich ihr unbemerkt in den
       Hausflur nach.
       
       Die Frau blieb vor einer Tür stehen und drückte den dazugehörigen
       Klingelknopf. Im selben Moment verschwand sie vor meinen Augen. Ein
       derartiger Vorgang war mir zwar prinzipiell bekannt, doch jetzt empfand ich
       ihn als besonders enttäuschend. Welch schnödes Ende der Verfolgung!
       
       Auf dem Hausflur war leises Harmoniumspiel zu hören. Ein Kind kam und
       führte mich zum hinteren Bereich des Erdgeschosses. Dort hörte ich andere,
       wie mit primitiven Blasinstrumenten erzeugte Geräusche. „Bitte, hier
       hinein“, sagte das Kind, indem es die Tür am Ende des Flurs öffnete.
       
       Ich erblickte einen mit leidend zitternder Stimme psalmodierenden Menschen
       und sonst nichts. „Ja, ja“, gab das Kind schuldbewusst zu, „ich hätte es
       Ihnen nicht zeigen dürfen. Aber Sie werden mir noch danken, wenn Sie erst
       verstehen, weshalb ich es tun musste.“
       
       Der psalmodierende Mensch jonglierte mit kleinen Hunden, schlug ohne jedes
       Taktgefühl eine Trommel und platzte zuletzt. Dabei entstand keine
       Verunreinigung des Raums, sondern nur anhaltendes Schnarchen. Ich fiel
       stehend in tiefen Schlummer. Beim Erwachen nach etwa zwei Stunden fühlte
       ich mich gut ausgeschlafen.
       
       1 Nov 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eugen Egner
       
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