# taz.de -- Stimmen aus der Ukraine: „Frieden klingt so verlockend“
       
       > Was bedeutet Frieden für Menschen im Krieg? Drei Ukrainer:innen
       > erzählen von friedlichen Momenten, von Bitterkeit und einem anderen
       > Weihnachtsfest.
       
 (IMG) Bild: Straßenszene im Regen auf dem Weg zur U-Bahn-Station in Kyjiw
       
       Als der Krieg begann, pausierte Polina Fedorenko, 21, gerade mit ihrem
       Informatikstudium. Sie wollte das Fach wechseln und studiert mittlerweile
       Soziologie. Polina Fedorenko kommt aus Kyjiw, sie war zwischenzeitlich in
       Lwiw, lebt aber jetzt wieder in ihrer Heimatstadt. Sie bestückt im Rahmen
       eines Freiwilligendienstes einen ukrainischen Newsticker mit Meldungen aus
       dem Krieg. 
       
       Frieden bedeutet Freiheit 
       
       Ich werde nie in der Lage sein, in einem Café zu sitzen und Kakao zu
       trinken und nicht daran zu denken, dass all das nicht existieren würde,
       wenn wir, die Menschen in der Ukraine, nicht zusammenhielten und uns
       gegenseitig unterstützen würden – moralisch, physisch, finanziell.
       
       Für mich wird es niemals Frieden geben, wenn wir von Russland eingenommen,
       also gefangen genommen würden. In Gefangenschaft könnte ich nicht
       existieren: Ohne meine Identität als ukrainische Frau, ohne unsere schönen
       Städte, in denen mir alles vertraut ist und alle wissen, wer Taras
       Schewtschenko ist, unser Nationaldichter.
       
       Frieden gibt es nicht ohne Freiheit.
       
       Und nicht ohne Erinnerung an die Gefallenen.
       
       Friedliche Momente, an die ich mich erinnere 
       
       2019 war ich mit einer Gruppe von Leuten, mit denen ich damals studierte,
       am Ufer des Schwarzen Meeres in der Region Cherson. Wir hatten ein Zelt
       dabei, aber im letzten Moment entschieden wir uns, im Schlafsack am Strand
       zu übernachten. Das Wasser war etwa einen halben Meter entfernt und wir
       vier schliefen beim Rauschen der Meeresbrandung unter dem Sternenhimmel
       ein. Am nächsten Morgen wachten wir im Morgengrauen auf und tanzten. Es gab
       viele Marienkäfer. Der Sonnenaufgang war unglaublich.
       
       Es gibt noch eine zweite Erinnerung. Sie kommt, glaube ich, aus dem Januar
       2020, kurz vor der Pandemie. Ich wollte gerade von der Uni nach Hause
       gehen, die Vorlesungen endeten gegen 18 Uhr und es war schon dunkel, da
       entdeckte ich einen Straßenmusiker. Es regnete, die Lichter des Riesenrads
       spiegelten sich auf dem nassen Platz. Ich beschloss, zur weiter entfernten
       Metrostation zu spazieren, die sich direkt neben der Seilbahn befindet. Die
       Lichter der Restaurants glitzerten auf dem Asphalt. Ich hatte das Gefühl,
       am richtigen Ort zu sein.
       
       Nachdem bei meiner Mutter Krebs diagnostiziert worden war, blieb ich sechs
       Monate zu Hause und sah meine Freunde nicht. Nach ihrer Operation besuchte
       ich für ein paar Tage eine Freundin in Dnipro. Mir ging es emotional sehr
       schlecht; ich konnte kaum mein Studium bewältigen, alles war schwierig.
       Meine Freundin und ich liefen mit einem Drachen am Strand des Kanals
       entlang, die Sonne schien. Olya war in diesem Moment so schön, und
       plötzlich konnte ich tiefer atmen und leichter.
       
       Eines Tages, es war schon Krieg, wurde das Licht ausgeschaltet, und Yarik,
       mein sechsjähriger Bruder, wurde krank und ging nicht zur Schule. Er lief
       in der Wohnung herum und rief: „Mir ist langweilig.“ Ich gab ihm einen
       alten analogen Fotoapparat, den mein Vater einst gekauft hatte.
       
       Für Yarik war der Umgang mit der Kamera schwer. Langsam verstand er, wie
       der manuelle Fokus funktioniert und wie genau er den Knopf drücken muss.
       Ich beobachtete ihn, wie er die Wohnung durch die Linse neu entdeckte, und
       lächelte ihn an. Es war dunkel auf der Straße, denn nach dem russischen
       Beschuss haben wir oft lange Zeit kein Licht. Aber neben ihm fühlte ich
       mich ruhig.
       
       Orte der Ruhe 
       
       Meine Wohnung in Lwiw. Mit meinen engen Freunden kuscheln.
       
       Mein Bett in der Wohnung meiner Eltern, wenn Yarik morgens vor dem
       Frühstück zu mir kommt und sich zu mir legt.
       
       Und jemandes Hand in meiner Hand zu halten. Sei es die große von Papa, wenn
       er beim Autofahren zu schluchzen anfängt und dann sagt, dass es in Ordnung
       ist. Sei es die geschwollene Hand meiner Mutter, die ich die ganze Zeit
       nicht losgelassen habe, als sie noch im Krankenhaus lag. Sei es die von
       Yarik, klein und warm, wir nennen ihn scherzhaft „unser lokales
       Heizkraftwerk“. Sei es die von Olya, die mich so festhält, als würde ich
       fallen, wenn sie mich loslässt. Oder die von Iryna, die meine Hand so
       leicht hält und immer irgendwohin führt.
       
       Auch wenn die Katzen um mich sind, werde ich ruhig. Selbst wenn Cora
       Schaden anrichtet und die Vorhänge hochklettert. Es ist unmöglich, in der
       Nähe von Sara und Cora nicht ruhig zu sein.
       
       Und die U-Bahn. Immer noch die U-Bahn. Dort bin ich am sichersten. Dort ist
       es warm für mich. Dort gibt es immer etwas Neues, ein paar ungewöhnliche
       Leute, und es ist interessant, zu raten, wohin sie gehen und wer sie sind.
       Dort kann man immer in ein Buch eintauchen, und dann existiert die Welt
       nicht mehr.
       
       Weihnachten 
       
       Normalerweise geht unsere Familie an Weihnachten zu meiner Großmutter
       väterlicherseits. Meine Familie ist nicht religiös, also gibt es bei uns
       nicht all die traditionellen Gerichte wie das süße Kutia etwa, aber diese
       Zeit des Jahres ist interessant, weil wir alle zusammenkommen.
       
       In guten Jahren, wenn es kein Covid gibt, fliegt meine Tante Katya zu
       Weihnachten aus den USA zu uns, und wir verbringen ein paar Tage zusammen
       im Haus meiner Großmutter. Letztes Jahr war ich mit einem Studentenprojekt
       zu Weihnachten in Odessa, und wir haben Krippen für das Militär gebaut.
       Damals habe ich viele neue Weihnachtslieder gelernt.
       
       Dieses Jahr wird Weihnachten anders sein. Erstens, weil meine Mutter im
       Dezember gestorben ist und wir sie am Tisch sehr vermissen werden. Zweitens
       versucht die Ukraine, vom gregorianischen auf den julianischen Kalender
       umzustellen, und deshalb wird Weihnachten dieses Jahr noch vor Silvester
       begangen.
       
       Ich denke, dass das diesjährige Weihnachtsfest so aussehen wird: Am 24.
       Dezember morgens werden ich, Papa und Yarik unsere Sachen ins Auto packen
       und zu Oma fahren. Sonya, meine Schwester, wird sich weigern mitzufahren,
       weil sie allein in der Wohnung bleiben will. Sie wird sich um unsere Katzen
       kümmern.
       
       Oma wird Yarik und mich küssen, Yarik wird losrennen, um alle Katzen von
       Oma zu küssen, und die Katzen werden sich vor ihm verstecken.
       
       Wir werden eine weite Strecke zum Supermarkt zurücklegen und müde
       heimkehren. Ich hoffe, dass es an Weihnachten noch schneien wird und die
       Russen am Feiertag nicht auf uns schießen.
       
       Später werden Großmutters Schwester und ihr Mann kommen. Papa wird grillen,
       Yarik wird sich einen Weihnachtsfilm ansehen, ich werde mit Großmutter und
       Großtante Salate zubereiten und mir ihre Lektionen über das Leben anhören.
       
       Wir werden uns an den Tisch setzen. Ein Stuhl wird leer sein, weil Mama
       gestorben ist. Diese Erkenntnis wird über uns hängen und uns alle
       schmerzen. Ich hoffe, ich kann an diesem Tag stark sein.
       
       ***
       
       Der 35-jährige Georgy Zeykov arbeitet seit Kriegsbeginn als Freiwilliger
       bei der humanitären Organisation Rescue Now UA und hilft bei Evakuierungen
       in und um Charkiw, seine Heimatstadt. Georgy Zeykov war vor dem Krieg
       Unternehmer, er entwarf Mode und Accessoires. Er beschreibt sich selbst als
       „Modefreak“, dem seine äußere Erscheinung bis vor Kurzem noch sehr wichtig
       war. 
       
       Meine Heimatstadt Charkiw, die Stadt, in der ich 35 Jahre lang gelebt habe,
       strahlt nicht. Unbeleuchtete Laternen säumen eine leere Straße. Dazwischen
       sind Cafés, die vor dem russischen Überfall ihre Weihnachtsdekoration noch
       nicht abgebaut hatten und nach dem [1][24. Februar], dem Tag der Invasion,
       nie wieder öffneten. Der Anblick ist mehr als trist. Die Schneeflocken aus
       Papier sind von den Schaufenstern gefallen, die Girlanden hängen herunter
       oder sind mit Spinnweben bedeckt. Eine dünne Staubschicht überzieht sie.
       
       Es gab eine Zeit, in der Charkiw strahlte. Vor einem Jahr war Charkiw mit
       zwei Millionen Einwohner:innen die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Nun
       leben noch 800.000 Menschen hier. Als am 12. September 2008 die Band Queen
       auf dem Freiheitsplatz in Charkiw spielte, kamen 350.000 Menschen. Heute
       bräuchte es noch etwas mehr als zwei mit Menschen gefüllte Freiheitsplätze
       für alle Einwohner:innen. Warum hänge ich so sehr an Zahlen? Weil ich
       möchte, dass Du meinen Schmerz verstehst.
       
       Eine Stadt ist nicht ein Ensemble aus Kästen aus Beton, eine Stadt lebt von
       den Menschen, die dort wohnen. Es sind noch Menschen hier. Aber die Stadt
       ist zu groß für sie. Trotz der 800.000 Bewohner:innen erscheint Charkiw
       mitunter wie ausgestorben.
       
       Es ist mehr als schwierig an einem Ort zu leben, der nur 26 Kilometer von
       der russischen Grenze entfernt ist. Russland, dieses Nachbarland, das jeden
       Tag Raketen und iranische Kamikaze-Drohnen abschießt. Ständige
       Bombardierungen kritischer Infrastrukturen, Strom-, Internet-, Handy-,
       Wasser- und Heizungsausfälle sind für Zivilist:innen mittlerweile zu
       einem normalen, aber nicht weniger dramatischen Problem geworden. Aber
       selbst in solchen Zeiten gibt es Raum für Neujahrsstimmung.
       
       Am 19. Dezember haben wir in Charkiw den Weihnachtsbaum der Stadt
       eingeweiht. Für die Bürger:innen war die Einweihung des Baumes auf dem
       Freiheitsplatz seit jeher ein wichtiges Ereignis, denn die Aufstellung
       markiert neben aller Symbolik auch den Beginn der Jahresend- und
       Neujahrsfeierlichkeiten. In den vergangenen Jahren wurden auf dem
       Freiheitsplatz zusätzlich ein kleiner Vergnügungspark, eine Eisbahn und ein
       Jahrmarkt eröffnet – ein ganzer Komplex von Unterhaltungsmöglichkeiten.
       Dieses Jahr finden die Feierlichkeiten unterirdisch statt. Der
       Weihnachtsbaum steht nicht auf dem Freiheitsplatz, sondern unter der Erde,
       in der U-Bahn-Station.
       
       Ich stehe auf der letzten Stufe der Treppe, die zum Bahnsteig der U-Bahn
       führt. Von dort aus habe ich einen Blick auf ebenjenen unterirdischen
       Weihnachtsbaum, der in normalen Zeiten über der Erde stehen würde. Es fällt
       mir schwer Worte zu finden für das, was ich sehe. Irgendwo in meinem
       Hinterkopf versuche ich mir einzureden, dass ich das hier mag und dass es
       keinen anderen Weg gibt. Aber ich kann mir doch nichts vormachen. Man hat
       mir und den Menschen in meiner Stadt die Möglichkeit genommen hat, unsere
       Traditionen friedlich zu begehen.
       
       Ich sehe mir die weihnachtliche Installation in der U-Bahn immer wieder an.
       Sie ist nicht schlecht gemacht. Wer auch immer das konstruiert und
       aufgebaut hat, hat sein Bestes versucht.
       
       An den Säulen des Bahnhofs hängen Lichterketten. Metallkonstruktionen
       wurden mit kerzenförmigen Glühbirnen dekoriert; zweckentfremdet bilden sie
       nun das Gerüst für die Weihnachtsbeleuchtung. Fast könnte man meinen, man
       befände sich in einer Gasse. Es gibt auch ein Nikolaushaus und einen
       Briefkasten für die Wunschzettel der Kinder. Da wir Weihnachten eigentlich
       am 6. Januar feierten, ist der Weihnachtsbaum auch unser Symbol des neuen
       Jahres. Er ist mit Girlanden und weißen, perlenartigen Kugeln geschmückt
       und sticht mir besonders ins Auge. Er ist ungefähr fünf Meter hoch. Neben
       der weihnachtlich geschmückten Tanne steht eine große Uhr, ebenfalls in
       Weihnachtsbaumform. Jemand hat eine rote Mütze auf ihre tannenförmige
       Spitze gesetzt. Ich lächle traurig.
       
       Früher sind viele Leute zur Einweihung des Weihnachtsbaumes gekommen, heute
       ist der Bahnhof kaum besucht. Die meisten von ihnen warten auf ihren Zug.
       
       Ich ertrage die Stimmung in der U-Bahn dann doch nicht. Meine Brust krampft
       sich zusammen und meine Beine führen mich zum Ausgang. Nein, es ist keine
       Panikattacke. Ich will einfach nur weg. Ich möchte nicht, dass sich das
       Bild dieses unterirdischen Weihnachtsbaumes in meine Netzhaut einbrennt und
       ich es nicht mehr loswerde. Ich möchte meine Erinnerungen an das
       weihnachtliche Charkiw nicht mit der Erinnerung an eine weihnachtliche
       U-Bahn überspielen. Es gilt, in meinen Erinnerungen eine Welt zu schützen,
       die es nicht mehr geben wird.
       
       Wenn wir gewinnen, wird das alles durch etwas Neues ersetzt. Das Neue wird
       auf seine Art vermutlich gut sein und einen Hauch von Freiheit und
       Leidenschaft mit sich bringen. Vielleicht bringt es auch Hoffnung. Aber
       nicht in diesem Moment. In diesem Moment möchte ich gehen. Ich fühle mich
       wie ein Außenseiter bei dieser Feier, mit der Bürde von jemandem, der weiß,
       wie es früher war und wie es sein sollte.
       
       Am oberen Ende der Treppe drehe ich mich um und sehe mir den unterirdischen
       Weihnachtsbaum ein letztes Mal an. Putin ist zu allem Überfluss der, der
       uns Weihnachten stahl. Wenn alles vorbei ist, wird man ihn als den wahren
       Dieb auf der Richterbank in Den Haag sehen, und eine Kaskade dessen, was er
       den Menschen genommen hat, wird auf ihn niedergehen. Er hat den Frieden,
       die Ruhe, das Leben der Menschen und auch den Sinn des Feierns geklaut.
       
       Ich frage mich, was er bei seinem Neujahrsgruß an seine Bürger:innen
       sagen wird? Wäre er ein ehrlicher Mensch, würde er sagen: „Ich habe den
       Ukrainern die Neujahrsstimmung und dem russischen Volk die Zukunft
       gestohlen.“
       
       ***
       
       Kateryna Smirnowa ist 25 Jahre alt und kommt aus Kyjiw. Sie arbeitet als
       freiwillige Helferin in den umliegenden Dörfern und hilft beim Wiederaufbau
       der zerstörten Häuser. Neben dieser Freiwilligenarbeit und der Arbeit als
       Übersetzerin ist sie Schlagzeugerin in einer Folkband, die traditionelle
       ukrainische Lieder spielt und sie für eine Opernaufführung aufbereitet. Für
       die Proben reist sie regelmäßig nach Lwiw: 
       
       Keine Ahnung, ob ich mir Frieden vorstellen kann.
       
       Frieden, das klingt so verlockend. Schon vor der Krim-Annexion durch
       Russland im Jahr 2014 haben wir gewitzelt, dass Ukrainer und Ukrainerinnen
       sich nie einfach so hinsetzen und entspannen können. Sie müssen immer auf
       der Hut sein. Sie müssen immer damit rechnen, fliehen zu müssen. Sie müssen
       sich vernetzen, schnell und präzise sein und immer ein paar andere Optionen
       parat haben für den Fall, dass etwas schiefgeht – und in der Regel geht es
       schief.
       
       Sind die Menschen überhaupt an Frieden interessiert? Frieden ist nicht
       gerade eine sexy Marketing- oder Storytelling-Strategie. Wir würden
       vermutlich den stillen Tod vorziehen als ständig dieses Unbehagen, wenn uns
       die Medien über alle Details des Sterbens informieren.
       
       Wirklich problematisch ist die Tatsache, dass viele den Frieden für
       selbstverständlich halten. „Nein zum Krieg“ ist genauso wenig eine Haltung
       wie „Alle Leben zählen“ – es ist vielmehr ein schwaches Konzept, das mit
       verführerisch friedlichen Worten maskiert wird.
       
       Kommt hinzu: „Für den Frieden kämpfen“ klingt falsch. Sprache ist ein
       herzloses Phänomen.
       
       Wenn mich meine Freunde und Freundinnen aus dem Ausland danach fragen,
       versuche ich einerseits die Wahrheit darüber zu erzählen, wie ich und meine
       Angehörigen leiden, und andererseits niemandem den Tag zu verderben, indem
       ich emotional und dramatisch bin. Ja, Menschen, die vom Krieg betroffen
       sind, klingen verbittert.
       
       Einmal hatte ich Gelegenheit, einen Vortrag über das Leben junger
       Freiwilliger in der Ukraine nach dem 24. Februar mit zu veranstalten. Das
       Publikum, lauter junge Dänen und Däninnen, brauchte eine halbe Stunde, um
       sich mit Limonaden und Snacks zu versorgen, um es durch meinen Vortrag zu
       schaffen. Ich brachte es nicht über mich, sie darauf hinzuweisen, dass das
       unhöflich ist. Ich sah nur, wie die armseligen 45 Minuten, die mir zur
       Verfügung standen, dahinschmolzen. In diesem Moment war die Frontlinie in
       meinem schiefen, gezwungen höflichen Lächeln zu sehen.
       
       Ich bin keine Maschine. Ich versuche Ruhe zu finden, indem ich meine
       Mietwohnung einrichte. Während der Stromausfälle wird es noch kälter. Nach
       16 Stunden Stromausfall sind es gerade noch 7 Grad. Ich versuche es positiv
       zu sehen – die Schnittblumen welken in der Kälte nicht so schnell. Ich
       versuche mich zu beruhigen, indem ich abschätze, ob mir der gute Kaffee
       schon beim nächsten Raketenangriff ausgehen wird. Ich versuche Ruhe zu
       finden, indem ich mich auf analoge Bücher verlasse, die nicht aufgeladen
       werden müssen. Und indem ich meine Freunde sehe.
       
       Eine meiner Freundinnen, die mich vor Kurzem besuchte, forderte mich auf,
       zu ihr zu ziehen, weil es in ihrer Wohnung wärmer sei als bei mir: „Ich
       meine es ernst, du kannst bei mir wohnen, ich bin gerade umgezogen, es ist
       besser geheizt. Mein Freund kämpft im Osten, also habe ich sowieso
       niemanden, mit dem ich die Wohnung teilen kann – komm!“
       
       Früher konnte ich beim Wandern in den Bergen immer Ruhe finden. Das tue ich
       auch jetzt noch, aber der Kontrast der reinen, atemberaubenden Landschaft
       der Karpaten trifft mich emotional so hart, und ich muss jedes Mal weinen,
       wenn ich dort bin. Zu meinem Alltag in der Stadt gehört es, dass ich
       fleißig Nachrichten lese, mich über meine Freunde, die bei den
       Streitkräften sind, auf dem Laufenden halte, für sie spende und mich
       ehrenamtlich engagiere – nichts bremst mich. Aber sobald ich die Hügel und
       Flüsse auf dem Land erblicke, weine ich aus dem Gefühl heraus, dass das,
       was hier geschieht, ungerecht ist. Eigentlich ist doch alles so freundlich,
       so sanft. Wir sind doch ein sanftes Volk.
       
       „Du bist so sanft“, sagt mein Freund, der seit Beginn der russischen
       Aggression im Jahr 2014 zweimal aus seiner Heimat fliehen musste. Während
       wir noch im Bett liegen, hören wir zwei Raketeneinschläge. Wir verdrehen
       die Augen und stehen auf, um alles aufzuladen, was aufgeladen werden kann,
       bevor der unvermeidliche Stromausfall eintritt.
       
       Einige meiner Freunde planen minutiös, in ein Dorf in der Bergregion zu
       fahren, für die großen Weihnachtszeremonien der Chöre. So konservativ die
       Gemeinde in den Bergen auch ist, der Pfarrer der wohl bekanntesten
       Dorfkirche von Kryvorivnya gehörte zu den Ersten, die einen Beitrag auf
       Facebook veröffentlichten, in dem es hieß, dass dieses Jahr die
       [2][Kolyada], die Auftritte der Weihnachtschöre, verlegt würden auf den 25.
       Dezember, wenn auch der Rest der westlichen Welt Weihnachten feiert. Sie
       werden nicht Anfang Januar wie beim orthodoxen Weihnachtsfest stattfinden.
       Wir sind alle gespannt. Es wird wirklich eine historische Kolyada werden in
       diesem Jahr, denn wir haben mithilfe von Crowdfunding Geld gesammelt, um
       die Leute zu unterstützen, die eigentlich immer in den Chören gesungen
       haben, aber jetzt an der Front sind.
       
       Die Festtagsperiode im Winter zieht sich normalerweise über zwei Monate und
       ist eine Zeit voller Zeremonien und Festlichkeiten. Es ist eine Zeit des
       Backens und Singens. Für mich war das schon immer eine Art Seelentherapie,
       weil man ständig von Menschen umgeben ist, die alles tun, um die Arbeit
       beiseitezulegen, um Zeit miteinander zu verbringen, sich gegenseitig zu
       besuchen und zu singen, zu singen, zu singen. In dieser Zeit habe ich mich
       immer geliebt und beschützt gefühlt.
       
       Keiner weiß, wie es dieses Jahr sein wird. Alle sind zögerlich, an
       öffentlichen Feiern teilzunehmen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch
       eine Debatte darüber, dass wir nicht zulassen dürfen, dass die Russen uns
       unsere Traditionen und unsere Freude stehlen.
       
       Jedes traditionelle Weihnachtslied hat diesen Refrain:
       
       Lobpreise den Himmel, 
       
       sei freudig, Erde, 
       
       lass die guten Menschen sich 
       
       guter Gesundheit erfreuen. 
       
       Als ich das letzte Mal in den Himmel geblickt habe, brauchten wir
       Luftabwehr. Die Erde ist von Artillerie vernarbt und gute Menschen sterben
       in tragischer Zahl.
       
       Wer ist besser geeignet, um ein Bild des Friedens zu zeichnen? Eine Person,
       die das Vertrauen verloren hat, weil sie merkt, wie sie sich bemühen muss,
       um die Wahrheit zu vermitteln? Oder eine Person, die genug Zeit hat,
       philosophische Konzepte über das theoretische Konzept des Friedens zu lesen
       und zu schreiben? Und was ist, wenn es ein und dieselbe Person ist?
       
       Ich habe das Gefühl, dass ich langsamer werde und mehr Zeit brauche, um
       grundlegende Dinge zu erledigen, je mehr der Dezember seinem Ende zugeht.
       
       „Bald ist Neujahr“, höre ich.
       
       „Bald ist es ein Jahr“, denke ich.
       
       24 Dec 2022
       
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       Die russische Armee braucht Soldaten. Bei der Rekrutierung greift sie auf
       immer verzweifeltere Mittel zurück.
       
 (DIR) Notizen aus dem Krieg: Wir fingen an zu weinen
       
       Sie will ein normales Leben. Nur, was ist normal im Krieg? Dass man
       Zusammenhänge schneller begreift Verantwortung übernimmt?
       
 (DIR) Notizen aus dem Krieg: Die Erde zu meinen Füßen
       
       Während er auf seinen Evakuierungseinsatz wartet, beobachtet Georgy Zeykov
       ein brennendes Feld. Er fragt sich: Was wurde aus dem Mann, dem es gehörte?
       
 (DIR) Notizen aus dem Krieg: Mauerreste bringen Likes
       
       Trotz Raketenalarms probt unsere Autorin mit ihrer Theatergruppe. Bei
       Aufräumarbeiten übermalen Helfer ein Lenin-Porträt blau-gelb.