# taz.de -- Berliner Neutralitätsgesetz: Berlin scheitert in Karlsruhe
       
       > Das Bundesverfassungsgericht lehnt Beschwerde von Berlin ab: Pauschales
       > Kopftuchverbot weiter nicht zulässig. Neutralitätsgesetz nun auf dem
       > Prüfstand.
       
 (IMG) Bild: Protestierende vor dem Arbeitsgericht Berlin
       
       BERLIN taz | Das Bundesverfassungsgericht hat eine Beschwerde des Landes
       Berlin zum Berliner Kopftuchverbot abgelehnt. Die Karlsruher Entscheidung
       erging ohne Begründung. In Berlin hat sofort eine neue Diskussion um das
       Berliner Neutralitätsgesetz begonnen.
       
       Im konkreten Fall geht es immer noch um die muslimische Informatikerin, die
       sich 2017 als Quereinsteigerin für eine Stelle als Lehrerin beworben hatte.
       Sie wurde nicht eingestellt, weil sie nicht bereit war, im Unterricht ihr
       Kopftuch abzulegen. Das Land berief sich auf das Berliner
       Neutralitätsgesetz von 2005. Danach dürfen Lehrer:innen, Richter:innen
       und Polizist:innen keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen
       Zeichen tragen.
       
       [1][Im August 2020 hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) der abgelehnten
       Muslimin 5.159,88 Euro Entschädigung nach dem Allgemeinen
       Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zugesprochen]. Das Land könne sich mit der
       Ablehnung nicht auf das Berliner Neutralitätsgesetz berufen, denn dieses
       müsse im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgelegt
       werden. Danach kann eine kopftuchtragende Lehrerin nicht generell abgelehnt
       werden, sondern nur wenn das Kopftuch zu einer „konkreten Gefahr“ für den
       Schulfrieden führt.
       
       Gegen das BAG-Urteil erhob die damalige Schulsenatorin Sandra Scheeres
       (SPD) im Namen des Landes Berlin 2021 eine Verfassungsbeschwerde.
       Eigentlich kann sich das Land nicht auf Grundrechte berufen, die ja
       Abwehrrechte der Bürger:innen gegen den Staat sind. Die Senatorin machte
       jedoch von einer Ausnahme Gebrauch: Der Staat kann sich auf sogenannte
       Prozessgrundrechte berufen, wenn er sich vor Gericht unfair behandelt
       sieht.
       
       ## Recht auf Gehör verletzt
       
       Im konkreten Fall machte die Schulsenatorin geltend, das BAG habe das Recht
       des Landes auf „rechtliches Gehör“ verletzt und ihm den „gesetzlichen
       Richter“ vorenthalten. Das Land kritisierte vor allem, dass das BAG eine
       Vorlage des Falles zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg
       verweigerte, obwohl das Land in der mündlichen Verhandlung eine ganz neue
       europarechtliche Argumentation vorbrachte. Danach stütze man das
       Neutralitätsgesetz auch auf das „Wohl des Kindes“, das in der
       EU-Grundrechtecharta verankert ist.
       
       Nun hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde des Landes
       Berlin abgelehnt. Der Beschluss vom 17. Januar wurde erst jetzt bekannt und
       ist noch nicht veröffentlicht. Es handelt sich um eine Kammerentscheidung
       von drei Verfassungsrichter:innen, sie erging ohne Begründung. Eine
       Begründung wird hier auch nicht nachgereicht. Vielmehr ergehen mehr als 75
       Prozent der Karlsruher Entscheidungen ohne Begründung, vor allem bei völlig
       aussichtslosen Klagen.
       
       Es gibt also kein neues Grundsatzurteil zum Kopftuchverbot in Berlin.
       Vielmehr gilt nach wie vor die Karlsruher Entscheidung von 2015, wonach
       pauschale Kopftuchverbote für Lehrerinnen verfassungswidrig sind.
       
       Das Bundesverfassungsgericht hat das Berliner Neutralitätsgesetz bisher
       auch nicht für verfassungswidrig erklärt. Die Entscheidung von 2015 betraf
       zwei Fälle aus Nordrhein-Westfalen. Und die jetzige Kammer-Entscheidung
       betraf das BAG-Urteil und die verweigerte Vorlage an den EuGH. Das Berliner
       Neutralitätsgesetz gilt also nach wie vor, es darf laut BAG aber nur noch
       verfassungskonform angewandt werden. Damit sind pauschale Kopftuchverbote
       auch in Berlin eindeutig nicht mehr zulässig. Das BAG-Urteil ist schon seit
       2020 rechtskräftig.
       
       ## Beschwerde in Straßburg möglich
       
       [2][Wenn die neue Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) weiter Zeit
       gewinnen will,] kann sie noch eine Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof
       für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg einreichen und sich wieder auf
       Prozessgrundrechte des Landes berufen. Eine solche Beschwerde in Straßburg
       hätte zwar keine aufschiebende Wirkung, könnte vom zerstrittenen Senat aber
       genutzt werden, eine einvernehmliche Neuregelung weiter aufzuschieben. Ein
       direkter Weg des Landes zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg
       ist nicht gegeben.
       
       Was nun mit dem Neutralitätsgesetz passiert, hängt nicht zuletzt vom
       Ausgang der Wahlen am 12. Februar ab. Die zurzeit regierende rot-grün-rote
       Koalition kommentierte das Votum der Karlsruher Richter am Donnerstag
       gegenüber der taz ähnlich. „Ich glaube, dass die Abschaffung des
       Neutralitätsgesetzes zeitgemäß ist“, teilte Justizsenatorin Lena Kreck
       (Linke) mit.
       
       Tuba Bozkurt, Sprecherin für Antidiskriminierung (Grüne), ließ wissen, die
       Entscheidung des Verfassungsgerichts müsse nun so schnell wie möglich
       umgesetzt werden. [3][„Das schulden wir den vielen muslimischen Frauen in
       dieser Gesellschaft.“] Für die SPD erklärte Fraktionschef Raed Saleh: „Das
       Kopftuchverbot fällt.“ Aufgabe sei es nun, das Gesetz im Rahmen der
       Rechtsprechung anzupassen.
       
       Anders der Tenor der CDU, die sich nach den Wahlen Hoffnung auf eine
       Regierungsbeteiligung macht. „Im Gegensatz zu Grünen, Linken und leider
       auch Teilen der SPD stehen wir weiter zum Ziel des Berliner
       Neutralitätsgesetzes“, so die kirchenpolitische Sprecherin der CDU,
       Cornelia Seibeld. Man verstehe das Richtervotum als klaren Auftrag, das
       Gesetz rechtssicher fortzuentwickeln. „Es kann nicht geduldet werden, wenn
       religiöse Symbole wie das islamische Kopftuch in staatlichen Einrichtungen
       demonstrativ zur Schau gestellt werden.“
       
       2 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
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