# taz.de -- Die deutsche Linke und Russland: Der Verlust der politischen Heimat
       
       > Russland-Romantik und theoretische Belehrungen statt Solidarität: Die
       > deutsche Linke versagt im Umgang mit der russischen Aggression in der
       > Ukraine.
       
 (IMG) Bild: Demonstrieren für den Feind meines Feindes?
       
       Etwa 150 Menschen stehen an einem kalten Januarabend vor dem russischen
       Haus der Kultur in Berlin. Unter dem Motto „Erinnern heißt Kämpfen“
       protestieren vornehmlich ukrainische und russische Linke gegen die
       russische imperialistische Aggression gegen die Ukraine, gegen Faschismus
       weltweit sowie politischen Terror in Russland.
       
       Auf der Demo hört man neben Ukrainisch und Russisch hin und wieder
       Englisch, Deutsch hingegen ist nur vereinzelt vernehmbar. „Die Ukraine muss
       gewinnen“, sagt Michael Efler von der Partei Die Linke, der als einziger
       deutscher Linker eine solidarische Rede auf der Demo hält, in der er einige
       seiner Parteifreund:innen, insbesondere Sahra Wagenknecht, für ihre Haltung
       gegen Waffenlieferungen an die Ukraine rügt. Diese Position ist in der
       deutschen Linken eine Seltenheit. Keine der zahlreichen antifaschistischen
       Gruppierungen hat auf diese Demo hingewiesen oder ist dort erschienen.
       
       Wieso scheint Russlands Krieg in der Ukraine deutsche Linke trotz eines
       proklamierten Internationalismus nur marginal zu interessieren? Erwähnung
       findet der Krieg in linken Kontexten insbesondere, wenn es um die
       berechtigte Kritik an den steigenden Lebenskosten in Deutschland geht. Die
       Verantwortung dafür suchen Teile der Linken jedoch nicht bei Russland,
       sondern beim Westen, der Sanktionen gegen Russland verhängte, oder der
       Ukraine, die sich nicht ergeben will.
       
       Hört man sich in linken Bündnissen um, fällt auch die Antwort auf die
       Frage, wer die Schuld an diesem Krieg trägt, alles andere als eindeutig
       aus. Ein beachtlicher Teil der deutschen Linken scheint fest daran zu
       glauben, dass der Angriff Russlands eine provozierte Reaktion auf die
       sogenannte Osterweiterung der Nato darstellt. Wie oft wurde im vergangenen
       Jahr auf linken Antikriegsdemos „Frieden mit Russland“ und „Nein zur Nato“
       skandiert, statt sich den Forderungen von Ukrainer:innen, russischer
       indigener Minderheiten und demokratischer, linker Russ:innen
       anzuschließen?
       
       Hierbei erinnert man sich immer gern an das vermeintliche mündliche
       Versprechen Deutschlands und der USA an Gorbatschow 1990, und verkennt
       dabei, dass mittelosteuropäische Staaten der Nato aus eigenem Willen und
       aufgrund ihrer eigenen Erfahrung mit dem russischen Imperialismus
       beitraten. Vergessen wird auch das jahrelange Ignorieren ukrainischer
       Sicherheitsbedürfnisse und das Budapester Memorandum von 1994, in welchem
       Russland der Ukraine für die Abtretung ihrer Atomwaffen volle Souveränität
       und die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen zusicherte. Diese unterzeichnete
       Vereinbarung wurde bekanntlich 2014 verletzt.
       
       Angesichts westlicher Waffenlieferungen an die Ukraine sehen sich
       pazifistische Linke nur bestärkt in ihrer Sicht, denn mehr Waffen könnten
       ja keinen Frieden schaffen – obwohl zahlreiche Kriege durch
       Waffenlieferungen beendet wurden. Zudem sprechen sie von einer historischen
       Verantwortung aufgrund des Zweiten Weltkriegs gegenüber Russland. Diese
       besteht aber genauso gegenüber der Ukraine, da sie neben Belarus am meisten
       unter der deutschen Invasion gelitten hatte. Doch stattdessen machen linke
       Pazifisten den Vorschlag, die Ukraine solle kapitulieren oder sich auf
       Verhandlungen mit Russland einlassen, das genozidale Absichten durch eine
       Delegitimierung der ukrainischen Identität und Kultur mehr als deutlich
       gemacht hat. Das ist „Westsplaining“ in Form eines realitätsfernen,
       moralisierenden Pazifismus, angesichts dessen, dass etwa 90 Prozent der
       Ukrainer:innen für die Rückeroberung der besetzten Gebiete sind, weil
       sie genau wissen, was ihnen unter russischer Besatzung droht.
       
       Beachtlich ist außerdem, dass nur westliche Waffenlieferungen und die
       Militarisierung der Ukraine angeprangert werden, nicht aber Waffen aus dem
       Iran und Nordkorea für Russland. Und auch nicht die Durchmilitarisierung
       Russlands in den letzten Jahrzehnten. Befeuert wird dies durch prorussische
       Propaganda, die über Instagram und Telegram verbreitet wird, über linke
       Kanäle wie „redfishstream“, den linken Arm von Russia Today, oder
       antiimperialistische Zeitungen wie die junge Welt. Unter dem Twitterhashtag
       „Das ist nicht unser Krieg“ findet sich zudem eine reaktionäre Querfront
       zusammen, die am liebsten so weitermachen würde, als sei Russland nie in
       die Ukraine einmarschiert. In diesen Kreisen werden jegliche Maßnahmen
       gegen russische Propaganda verurteilt, der ukrainische Präsident Selenski
       in antisemitischer Manier als Nato-Schoßhund bezeichnet, die Bedeutung der
       extremen Rechten in der Ukraine maßlos überzeichnet und Verbrechen gegen
       ukrainische Zivilist:innen heruntergespielt oder geleugnet.
       
       Auch nach Kritik an Russland und seiner Führung sucht man hier vergeblich,
       vielmehr findet hier eine Apologetik statt. Siehe allein das neueste
       Beispiel in Form einer Petition und eines Manifests, verfasst von der
       Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht und der Feministin [1][Alice
       Schwarzer], worin diese fordern, „uns“, also der Hälfte der Deutschen und
       ihrer verklärten Sicht auf den Krieg in der Ukraine zuzuhören. Man solle
       alle Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen, um Schaden vom deutschen
       Volk zu wenden.
       
       So verkennen deutsche und andere westliche Pazifist:innen und
       Antiimperialist:innen den Imperialismus in Russlands Handeln. Ihre
       Analyse basiert oft auf veralteten, vulgärmarxistischen
       Imperialismustheorien. Russland ist heute jedoch eine fossilkapitalistische
       Diktatur, ohne freies Bürgertum und klassische Arbeiterklasse und wird von
       einem unproduktiven Oligarchentum und Geheimdiensten regiert. Gewiss trifft
       Karl Liebknechts Losung „der Hauptfeind steht im eigenen Land“ auf die
       russische Gesellschaft zu. Doch ertönt diese in linken Kontexten vor allem
       in Bezug auf die Ukraine und verhindert so das Benennen der
       Kriegsverantwortlichen. Ganz sicher ist nicht Wolodimir Selenski der
       Hauptfeind des ukrainischen Volkes, sondern das imperiale Russland und
       Wladimir Putin. Die Symmetrien zwischen imperialistischen Mächten aus der
       Zeit während und nach dem Ersten Weltkrieg, aus der die Losung stammt,
       existiert heute so nicht mehr. Sinnvoll wäre gewiss auch, diesen „Rat“ im
       eigenen Land anzuwenden, wo für die Handlungen des deutschen Kapitals, das
       gegen alle Warnungen Appeasement mit Russland trieb, bislang keine
       Verantwortung übernommen wird.
       
       Getrieben von einem regressiven Antiamerikanismus und der Romantisierung
       Russlands als Nachfolger der Sowjetunion, findet in Teilen der Linken eine
       Überidentifikation mit dem „Anti-Westen“ statt, ganz der plumpen „Der Feind
       meines Feindes ist mein Freund“-Logik folgend, obwohl für Marx eine
       bürgerlich-demokratische Gesellschaft – welche die Ukraine im Begriff war
       zu erschaffen – eine notwendige Voraussetzung für den Sozialismus
       darstellt. In Äquidistanz zu Despotie und Demokratie versagt man denjenigen
       Hilfe, die vielleicht nicht unter der roten Fahne, aber ohne Zweifel für
       Menschenrechte und Freiheit kämpfen, und stellt eigene Theorien über
       gelebte Realität in Ländern auf, über die man bisher kaum etwas wusste. Aus
       einer solchen Perspektive ist die Ukraine noch immer eine Pufferzone für
       russische und westliche Interessen, sind ihre Bürger:innen
       US-Marionetten und nicht autonome Subjekte. Ähnlich duckten sich Linke auch
       bei der Unterdrückung der Revolution in Belarus 2020 weg, den blutig
       niedergeschlagenen Protesten in Kasachstan 2022, beim russischen Krieg
       gegen Georgien 2008 oder bei den beiden Tschetschenienkriegen, die etwa
       200.000 zivile Opfer forderten, während die Maidanrevolution 2013/14 in
       Kyjiw als vom Westen inszenierter, nationalistischer Aufstand verächtlich
       gemacht wurde.
       
       Die syrische linke Autorin Leila Al-Shami benannte dieses Verhalten in
       einem Text 2018 als „Antiimperialismus der Idioten“. Denn auch im Falle
       Syriens, als Assad begann, seine eigene Bevölkerung zu terrorisieren und
       einen Schulterschluss mit Putin wagte, der 2015 Aleppo in Schutt und Asche
       legen ließ, blieb linke Solidarität weitgehend aus. Die großen
       [2][Demonstrationen der westlichen „Anti-Kriegs“-Linken] hätten wenig mit
       der Beendigung des Krieges zu tun gehabt, schreibt Al-Shami, Empörung sei
       erst bei der Intervention des Westens gegen Assads Unrechtsregime
       aufgekommen. Das Problem dieser autoritären Linken sei, dass sie – ob es
       nun Hands off Syria oder Russia & China (wie bei der
       Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt 2022) hieß – Staaten in den
       Mittelpunkt der politischen Analyse rückten und nicht die unterdrückten
       Gruppen der jeweiligen Gesellschaften.
       
       Stattdessen wird der Dialog gepflegt mit Vertretern der homophoben und
       nationalistischen Kommunistischen Partei Russlands (KPRF), die noch Ende
       2022 für eine Verschärfung des „Homosexuellenpropagandagesetzes“ stimmte.
       KPRF-Politiker wie Dmitri Nowikow oder Nikolai Platoschkin sprechen auf
       linken Kongressen wie der Rosa-Luxemburg-Konferenz 2022 und 2023 in
       Deutschland, zu denen Ukrainer:innen nicht eingeladen wurden. Sie
       rechtfertigen dort die Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur,
       vergleichen den Ausruf „Slawa Ukraini“ mit Sieg Heil und fordern unter
       Applaus ein Wiederaufleben der Sowjetunion. Obwohl die Konferenz Rosa
       Luxemburgs Namen trägt, ist eins ihrer berühmtesten Zitate in diesen
       Kreisen nicht mehr gültig: „Zu sagen, was ist, bleibt die revolutionärste
       Tat.“ Von der Linken, die sich sonst an der Seite der Unterdrückten wähnt,
       scheint es kein Interesse zu geben an den Zivilist:innen, die in der
       Ukraine massakriert werden, und auch nicht an der Armut und Rechtlosigkeit
       russischer Minderheiten.
       
       Jene, die es hierzulande wagen, Einspruch gegen dieses verklärte Weltbild
       zu erheben, sehen sich im Netz und auf der Straße oft mit Beleidigungen,
       Drohungen oder Ausschlüssen konfrontiert. [3][Linke osteuropäische
       Aktivist:innen] erleiden online einen linksautoritären Shitstorm nach
       dem anderen, wenn sie sich kritisch zur Sowjetunion äußern oder Russland
       als faschistisch bezeichnen. Viele von ihnen sind müde und enttäuscht, die
       belehrenden Angriffe und die Verächtlichmachung ihres Leids bedeuten für
       sie einen, wohl unwiderruflichen, Verlust ihrer politischen Heimat. Der
       Osteuropahistoriker Karl Schlögel fasste das Versagen der gegenwärtigen
       Linken wie folgt zusammen: „Wer den Bedrohten nicht beisteht, hat den
       Antifaschismus verraten.“
       
       20 Feb 2023
       
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