# taz.de -- Armin Thurnher zur Politik in Österreich: „Es gibt keinen Lerneffekt“
       
       > Die Ära von Sebastian Kurz war ein Einschnitt, sagt der Journalist Armin
       > Thurnher. Er erklärt, warum die Linke in Österreich auf eine Ampel hofft
       
 (IMG) Bild: Im Angriffsmodus: FPÖ-Chef Herbert Kickl beim Protest gegen Corona-Maßnahmen im Januar 2022
       
       wochentaz: Herr Thurnher, Ihr neues Buch heißt „Anstandslos“.
       Offensichtlich ein Wortspiel. Auf wen bezieht es sich? 
       
       Armin Thurnher: Auf die Ära Sebastian Kurz. Da hat das österreichische
       Bürgertum oder die Reste davon oder der österreichische Konservativismus
       eine Grenze überschritten, und zwar die Grenze zum Trumpismus. Unter Kurz
       wurden gewisse Selbstbeschränkungen fallengelassen. In der Politik wurde
       immer schon gelogen. Aber es war bisher nicht so, dass man die Lüge eiskalt
       als Mittel einsetzt, um die Karriere und politische Werbung zu befördern.
       
       Ist zur Ära Kurz nicht schon alles gesagt? 
       
       Nein. Es ist viel zu wenig bekannt, wie sehr da bereits US-amerikanische
       Polittrends hereinspielen, Social Media und das Voranschreiten der
       politischen Unvernunft. Auch das evangelikale Moment spielte auf
       Österreichisch eine Rolle. In einer Religionsshow in der Stadthalle stieg
       Sebastian Kurz auf die Bühne, und ein evangelikaler Prediger dankte seinem
       Herrn für diesen Mann. Das letzte Indiz war dann das Engagement von Kurz
       beim rechten Investor Peter Thiel, der auch stark evangelikal geprägt ist.
       Diese Leute streben nicht Demokratie an, sondern The Kingdom of God. Und da
       passt Kurz gut hinein, ohne dass man das hierzulande als politische
       Willenskundgebung erkannt hätte. Er hat zwar gern an Wallfahrtsorten
       posiert, seine Religiosität aber nicht ausgestellt. Das Evangelikale ist
       einfach so passiert, quasi anstandslos.
       
       Kurz ist weg. Die ÖVP ist in den Umfragen bei um die 20 Prozent, also dort,
       wo sie vorher war. Auch die FPÖ ist wieder dort, wo sie vorher war. Also
       alles wieder normal? Oder war die Ära Kurz ein Einschnitt? 
       
       Sie war ein Einschnitt. Gewisse Zerstörungen sind nicht mehr gutzumachen,
       [1][zum Beispiel in den Medien]. Die politische Vereinnahmung des
       öffentlich-rechtlichen Rundfunks passiert jetzt mit einer Unverschämtheit,
       die vorher nicht da war. Die gesamte politische Kommunikation, nicht nur
       der ÖVP, sondern insgesamt des Landes, wurde durch diese Jahre einigermaßen
       zerstört.
       
       Würde das Wahlvolk ein weiteres Mal auf so einen Typen hereinfallen? 
       
       Jederzeit. Es gibt überhaupt keinen Lerneffekt. Es ist ja ein Fortschreiten
       der allgemeinen Irrationalität zu beobachten, auch aufgrund der Schwäche
       der Linken und der Sozialdemokratie. Diese steigende Irrationalität
       begünstigt natürlich polarisierende und charismatische Typen. Dieses
       Charisma ist ja kein echtes, sondern oft nur ein fauler Zauber. Die
       Trump-Anhänger wissen ja, dass Trump lügt. Faszinierend. Sie haben einfach
       beschlossen, ihm zu glauben. Und das ist präaufklärerisch. Inmitten einer
       hochtechnisierten Welt. Da ist Österreich durchaus auf der Höhe der Zeit,
       mit dieser Gleichzeitigkeit von atavistischem und völkischem Zeug auf der
       rechtsextremen Seite und modernen technischen Mitteln, mit denen das
       verbreitet wird.
       
       Angesichts der Widersprüche in den Aussagen von ÖVP-Politikern wundert man
       sich, warum die nicht mehr Stimmen verloren haben. Da heißt es, das Geld
       wachse nicht auf den Bäumen, wenn es um die Existenz des
       öffentlich-rechtlichen Rundfunks geht. Aber für Steuergeschenke an
       Milliardäre wie René Benko scheint es ganze Plantagen von Geldbäumen zu
       geben. 
       
       Das liegt wohl an den dominierenden Boulevardmedien. Der Boulevard
       wirtschaftet in die Taschen der Eigentümerfamilien, die sind doch lauter
       Millionäre und Milliardäre, um Bernie Sanders zu zitieren. Die haben kein
       Interesse an gerechter Besteuerung oder vernünftiger Medienförderung. Auf
       die Interessen dieser Leute wird sehr stark Rücksicht genommen. Im
       Eigeninteresse der handelnden PolitikerInnen, aber nicht im Interesse der
       Bevölkerung.
       
       Vor Kurzem ist in Niederösterreich eine [2][schwarz-blaue Regierung
       zustande gekommen]. Warum wird das als besonderer Dammbruch gesehen? Es ist
       ja nicht die erste rechtskonservative Regierung in diesem Jahrhundert. 
       
       Bei der niederösterreichischen FPÖ gibt es dauernd „Ausrutscher“. Da ziehen
       Abgeordnete in den Landtag ein, die sich mit Hitlergruß fotografieren
       lassen. Der Spitzenmann Udo Landbauer gehört einer schlagenden Verbindung
       an, bei der ein Liederbuch mit antisemitischen und rechten Gesängen
       gefunden wurde. Zahllose Einzelheiten zeigen, dass die FPÖ Niederösterreich
       ein extrem rechter Flügel innerhalb der FPÖ ist, was schon einiges heißen
       will. Mit so einer Partei ohne Not zu koalieren, ist ein Tabubruch, der
       darauf schließen lässt, dass das eine Probe ist für die nächste
       Bundesregierung nach den Wahlen 2024. Unter Umständen auch mit einem
       Kanzler Herbert Kickl von der FPÖ.
       
       Für die Linke ist jetzt die Ampel – SPÖ, Grüne und Neos – die einzige
       Perspektive, die noch Mut macht. Warum ist es in Österreich so absolut
       unüblich zu sagen, mit wem man nach der Wahl koalieren will? 
       
       Das ist eine üble Tradition, die ich nie verstanden habe. Wenn man sich
       vorher festlegt, würde man mehr politische Perspektive in die Arbeit
       bringen, aber perspektivisches Denken ist der österreichischen Politik
       fremd. Die SPÖ hat zumindest lange Zeit gesagt, mit der FPÖ würde sie nicht
       koalieren. Damit hat sie zwar Wahlen gewonnen, aber dann die Verhandlungen
       verloren. Jetzt reden Hans Peter Doskozil und Andreas Babler, die beide
       Pamela Rendi-Wagner als SPÖ-Chefin ablösen wollen, von einer Ampel als
       Wunschkoalition.
       
       In den sozialen Medien werden die Grünen dafür geprügelt, was die ÖVP macht
       und sie nicht verhindern können. Auch in der politischen Debatte sieht es
       aus, als wären für die SPÖ die Grünen die eigentlichen Gegner. 
       
       Die Grünen sind in einer beschissenen Lage. Sie können aus der Koalition
       mit der ÖVP nicht heraus, weil sie bei Neuwahlen massiv verlieren würden.
       Gleichzeitig verlieren sie aber weiter, wenn sie drinbleiben. Wir können
       nur hoffen, dass irgendwas Unvorhergesehenes passiert, das ihnen
       vielleicht doch zu einem besseren Ergebnis verhilft. Zum Teil konnten sie
       ja erstaunliche Dinge durchsetzen, vor allem klimapolitisch. Aber das wird
       ihnen nicht angerechnet. In der Sozialpolitik können sie sich nicht
       durchsetzen, weil die ÖVP einfach die Hausherrenpartei ist. Immerhin, ohne
       den Druck der Grünen wäre Sebastian Kurz noch immer Bundeskanzler. Das
       allein ist schon ein ganz fetter Pluspunkt. Kann man natürlich schwer in
       einer Koalition laut vor sich hertragen. Allenfalls vielleicht im
       Wahlkampf. Dann ist es aber zu spät.
       
       Was ist in der SPÖ los? Da gibt es ab nächster Woche eine
       [3][Mitgliederbefragung zum Parteivorsitz], ursprünglich wollten sich 69
       Kandidaten und 4 Kandidatinnen stellen. Chaostage, wie der Boulevard
       schreibt, oder kreativer Aufbruch mit Basisdemokratie? 
       
       Es ist natürlich beides. Ich habe mich gegen die Etikettierung „Chaostage“
       gewehrt, weil das ein typisches ÖVP-Framing war, das von allen Medien
       begeistert aufgegriffen wurde. Die Rivalität zwischen Pamela Rendi-Wagner
       und Hans Peter Doskozil ist natürlich aus dem Ruder gelaufen. Gefühlsmäßig
       können’s beide nicht. Und das bei einer Themenkonjunktur, die für die SPÖ
       ein Geschenk war: Ermittlungen gegen Spitzenpolitiker der ÖVP, ein
       vollkommen gescheitertes Coronamanagement, eine Koalition, die wankt, eine
       Umverteilung nach oben, explodierende Preise, Inflation. Ein aufgelegter
       Elfmeter nach dem anderen. Und die SPÖ macht nichts daraus. Die haben ja
       wirklich erwartet, dass die objektive Lage ihnen die Massen zutreibt.
       Tatsächlich lagen sie schon bei fast 30 Prozent. Aber dann kam Herbert
       Kickl von der FPÖ. Kickl ist ein aktiver Politiker, ein Demagoge, ein
       Verführer. Er hat die Situation zu seinen Gunsten gedreht, mithilfe von
       Corona und Migration.
       
       Es heißt, Donald Trump wird nicht gewählt, weil er sympathisch ist, sondern
       weil er ohne Beißhemmung jede Schwäche des Gegners ausnutzt. Kickl hat ja
       auch extrem niedrige Sympathiewerte. 
       
       Bei Kickl spürt man diesen unbändigen Willen, an die Macht zu kommen, den
       man auch bei Kurz gespürt hat. Der steht für was. Die Leute spüren da was.
       Bei Frau Rendi-Wagner, die sehr sympathisch ist, spüren sie nichts.
       
       26 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /exec/mainmenu.pl
 (DIR) [2] /exec/mainmenu.pl
 (DIR) [3] /exec/mainmenu.pl
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralf Leonhard
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Österreich
 (DIR) Sebastian Kurz
 (DIR) ÖVP
 (DIR) FPÖ
 (DIR) Donald Trump
 (DIR) Boulevardpresse
 (DIR) Koalition
 (DIR) SPÖ
 (DIR) Kolumne Postprolet
 (DIR) SPÖ
 (DIR) Österreich
 (DIR) Österreich
 (DIR) Sebastian Kurz
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) SPÖ hat neuen Chef: Doskozil setzt sich durch
       
       Hans Peter Doskozil leitet nun die Sozialdemokratische Partei Österreichs.
       Er gilt als Befürworter einer harten Linie gegen Migration.
       
 (DIR) Kommunisten in Österreich: Rezept gegen Fatalismus? Österreich
       
       Wer früher Revolutionär war, wälzt sich heute in Fatalismus. Dabei zeigt
       die österreichische KPÖ gerade, wie man Menschen begeistert.
       
 (DIR) Krise in Österreichs Sozialdemokratie: Spindoktors Traum
       
       Die österreichische Sozialdemokratie ist in der Krise. Für ihre Erneuerung
       kämpft der Parteilinke Andreas Babler, Bürgermeister und Held der Basis.
       
 (DIR) Recherche hinterfragt Strafprozess: Vorwürfe gegen Österreichs Justiz
       
       Julian Hessenthaler ist Urheber des „Ibiza-Videos“ und saß in Österreich in
       Haft – wegen Drogen. Eine Recherche hinterfragt nun den Strafprozess.
       
 (DIR) Rennen um SPÖ-Vorsitz: Dreikampf in der SPÖ
       
       Aus 73 Kandidaturen bleiben am Ende nur drei mögliche Bewerber*innen
       für den SPÖ-Vorsitz in Österreich. Am 22. Mai wird das Ergebnis
       bekanntgegeben.
       
 (DIR) Sebastian Kurz und die Presse: Macht und Boulevard
       
       Die Beziehung zwischen Österreichs Ex-Kanzler Sebastian Kurz und der
       Boulevard-Presse ist zweifelhaft. Schon gibt es neue Anschuldigungen.