# taz.de -- Essstörung der Turnerin Kim Bui: Späte Einsichten
       
       > Kim Bui erzählt kurz nach der Turnkarriere in ihrem Buch vom Hungern,
       > physischen und psychischen Schmerzen. Das ist gut, doch warum erst jetzt?
       
 (IMG) Bild: Keine reine Freude: Kim Bui nach dem Finale der European Championsships
       
       Während der Turn-EM zuletzt bereiste Kim Bui Vietnam, die Heimat ihrer
       Eltern. Dass sie, die im vergangenen Sommer [1][ihre Karriere mit einer
       bronzenen EM-Teammedaille beendet hatte], die Tochter vietnamesischer
       Boatpeople ist, erfährt man auch in ihrem Buch „45 Sekunden. Meine
       Leidenschaft fürs Turnen – und warum es nicht alles im Leben ist“.
       
       Kim Bui gibt sehr Persönliches preis. Allem voran [2][ihre
       Bulimie-Erkrankung], die dazu führte, dass sie „fünf, sechs Jahre ein
       krasses Doppelleben“ zwischen Training und Brechsucht führte. Es hatte mit
       einem Satz ihrer damaligen Trainerin begonnen: „Kim, du musst mal ein
       bisschen auf dein Gewicht aufpassen“, und wurde zu einem Teufelskreis. Buis
       Schilderungen geben Einblick in eine Sportart, in der siebenjährige Kinder
       ganz ernsthaft Wettkämpfe turnen.
       
       Eine Sportart, in der allzu leicht Abhängigkeiten entstehen. Es sind
       Trainer:innen, die die Macht, die sie über ein ehrgeiziges Mädchen haben,
       nutzen, um das gemeinsame sportliche Ziel zu erreichen. Bui beschreibt, wie
       sie diese Abhängigkeit bis zum Schluss verspürte und wie sie stets um
       Anerkennung kämpfte. Training mit Schmerzen und Verletzungen, Gehorsam und
       immer wieder das Thema Gewicht – es ist eine persönliche Geschichte und
       doch auch die Geschichte von vielen anderen.
       
       Die Parallelen zur #gymnastAlliance-Debatte über inakzeptable
       Trainingsmethoden, die 2020 durch Schilderungen zweier Britinnen ausgelöst
       worden war, sind frappierend. Dass „45 Sekunden“ für Insider wenige
       Überraschungen bereithält, tut dem keinen Abbruch. Im Gegenteil: Wenn sich
       in dieser Sportart nachhaltig etwas verändern soll, dürfte jede einzelne
       dieser Geschichten wichtig sein.
       
       ## Floskelhafte Ratgeberliteratur
       
       Was die Lektüre erschwert, sind zahlreiche Passagen, die sich lesen wie ein
       Schulbuch für Sechstklässler und das Aufrufen beliebter Klischees – das
       viele Geld im Fußball oder all die Kinder, die nicht mehr auf Bäume
       klettern können. Stilistisch wird kaum eine Floskel ausgelassen. Vieles
       erinnert an Ratgeber-Literatur: „Auf jedes Tief folgt ein Hoch“.
       
       Geschrieben hat das Buch Andreas Matlé, im Hauptberuf Pressesprecher eines
       hessischen Energieversorgers. Bui konstatiert, im Laufe ihrer Karriere habe
       sich Etliches zum Guten verändert, und klagt gleichwohl an: die jüngere
       Teamkollegin in Stuttgart, die vor wenigen Jahren am Agieren ihrer
       Trainer:innen zerbrochen ist, die ungleiche Bezahlung von Männern und
       Frauen in der Liga, die eigene WM mit drei Ibuprofen600 pro Tag, um den
       Schmerz zu ertragen.
       
       Was fehlt, ist die Reflexion der eigenen Rolle: Hätte sie die Pillen als
       beinah 30-Jährige nicht verweigern können? [3][Als Pauline Schäfer-Betz im
       Winter 2020] die Missstände in Chemnitz öffentlich machte, wurde das zum
       Auslöser des Leistung-mit-Respekt-Prozesses im Turnerbund. Sanktioniert
       wurde sie nicht. Sie turnt bis heute erfolgreich.
       
       In der Turnszene stößt das Buch recht einhellig auf Ablehnung. Warum erst
       jetzt? Warum hat sie das intern nie thematisiert? Fragen, die sich Bui
       gefallen lassen muss. Sie ist 34 Jahre alt, war 14 Jahre Aktivensprecherin,
       in etliche Prozesse, die sie nun anprangert, selbst eingebunden. Was nach
       der Lektüre klar ist: Kim Bui hat in der Turnhalle nicht gelernt, die
       Stimme zu erheben. Sie sei dazu „vorher nicht bereit gewesen,“ sagte sie
       Anfang März: „Ich bin ganz glücklich, dass ich über die letzten Jahre sehr
       viel reflektiert habe.“ Was bleibt, ist eine individuelle Verantwortung für
       das eigene Handeln, wie auch für das eigene Nichthandeln.
       
       26 Apr 2023
       
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