# taz.de -- Journalismus in Mexiko: Realität ignorieren und umschreiben
       
       > Der mexikanische Präsident López Obrador spricht von einer Lügen-Kampagne
       > gegen ihn. Währenddessen werden weiter wöchentlich Journalisten ermordet.
       
 (IMG) Bild: Verkennt die Realität: Präsident Obrador
       
       Logisch, die Medien sind schuld. Die hätten mit einer Kampagne bewusst ein
       Bild gezeichnet, nach dem der Bundesstaat Chiapas sehr unsicher sei, ließ
       der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador jüngst auf Twitter
       wissen. Klarer Fall: Alles Lüge, es geht uns eigentlich gut, aber da sind
       diese Journalist*innen, die das Land mit Dreck bewerfen. Und natürlich ihn.
       
       De facto herrschen im Südosten des Landes seit über einem Jahr Zustände,
       die man ohne Übertreibung als bürgerkriegsähnlich bezeichnen kann. Tausende
       Bewohner*innen wurden aus ihren Dörfern vertrieben, Aktivist*innen
       ermordet, zahlreiche Regionen leiden alltäglich unter dem Terror der
       organisierten Kriminalität. Paramilitärs, die eng mit staatlichen Kräften
       zusammenarbeiten, greifen Gemeinden der [1][rebellischen indigenen
       Zapatist*innen] an.
       
       Selbst in der Touristenhochburg San Cristóbal ziehen kriminelle Banden mit
       Waffen durch die Straßen. Nach Einschätzung der Menschenrechtsorganisation
       Fray Bartolomé de las Casas agieren in Chiapas gewaltsam bewaffnete
       Gruppen, um ihre soziale, politische, wirtschaftliche und territoriale
       Kontrolle unter anderem im Interesse der Widerstandsbekämpfung der
       Regierung durchzusetzen.
       
       ## Im restlichen Land sind die Mordzahlen noch höher
       
       Davon will der linksnationalistische Präsident nichts wissen, nicht
       zuletzt, weil einige der örtlichen korrupten Machthaber in seiner Partei
       MoReNa sitzen. Gemeinhin betont López Obrador bei solchen Verlautbarungen,
       die Kampagnen hätten nur das Ziel, ihm zu schaden. Dafür war bei Twitter
       wohl kein Platz. Zur Erklärung seiner steilen These schrieb er dafür,
       Chiapas liege mit Blick auf die Mordzahlen pro 100.000 Einwohner*innen
       nur auf Platz 26 der 32 mexikanischen Bundesstaaten. Eine begrenzt
       überzeugende Erklärung.
       
       Ein Blick in die Nachrichten der letzten Woche geben ihm jedenfalls Recht.
       Am Montag überfielen mehrere maskierte Männer in der zentralmexikanischen
       Stadt Toluca eine Markthalle, erschossen neun Menschen, gossen Benzin aus
       und zündeten das Gebäude an. Am Dienstag starben sechs Menschen im
       westlichen Bundesstaat Jalisco durch Bomben, die am Straßenrand abgelegt
       wurden.
       
       Ebenfalls Anfang der Woche mobilisierte das kriminelle Kartell „Los
       Ardillos“, das beachtliche Teile des Bundesstaats Guerrero kontrolliert,
       2.000 Menschen aus umliegenden Dörfern. Sie legten die Landeshauptstadt
       Chilpancingo lahm, um die Freilassung zweier ihrer Mitglieder
       durchzusetzen. Zuvor starben dort sechs Taxifahrer bei Kämpfen zwischen den
       „Ardillos“ und den „Tlacos“ – zwei von ihnen verbrannten in ihren Autos.
       Und so weiter.
       
       ## Journalistische Arbeit ist lebensgefährlich
       
       Sicher sind für López Obrador auch diese Geschichten Teil einer Kampagne
       von Journalist*innen. Etwa von Yener de los Santos, der immer wieder
       über die Ardillos schreibt und auch über die Vorfälle der vergangenen Woche
       berichtete. [2][Für Kolleg*innen wie ihn ist ihre Arbeit
       lebensgefährlich.] Im April brachen Unbekannte in Santos’ Wohnung ein und
       stahlen drei Fotoapparate, eine Videokamera und seinen Computer.
       
       Erst im Juni wurde nahe Chilpancingo der Radiomoderator Pablo Salgado
       ermordet. Vergangene Woche traf es in der Stadt Tepic im westlichen
       Bundesstaat Nayarit den Korrespondenten der Tageszeitung La Jornada, Luis
       Martín Sánchez. Man fand ihn gefesselt, mit Plastiksäcken bedeckt. Auf
       seiner Brust hatten die Täter eine Nachricht hinterlassen. Am Samstag wurde
       dann in Acapulco der Journalist Nelson Matus erschossen.
       
       López Obradors Fähigkeiten, die Realität zu ignorieren und umzuschreiben,
       ist immer wieder beeindruckend. Es wäre schön, wenn man seine Geschichten
       nicht ernst nehmen müsste und als Realsatire abtun könnte. Doch das
       Gegenteil ist der Fall: Die Mehrheit der Bevölkerung will genau das hören.
       Bislang besteht jedenfalls kein Zweifel daran, dass der Kandidat oder die
       Kandidatin seiner Partei bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr
       als Sieger hervorgehen wird.
       
       Der Autor ist taz-Korrespondent in Mexiko.
       
       18 Jul 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Protest-gegen-Grossprojekte-in-Mexiko/!5932404
 (DIR) [2] /Gefahr-fuer-Presse-in-Mexiko/!5929845
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Wolf-Dieter Vogel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Latin Affairs
 (DIR) Mexiko
 (DIR) Feinde der Pressefreiheit
 (DIR) Mord
 (DIR) Journalismus
 (DIR) Politisches Feuilleton
 (DIR) Schwerpunkt Pressefreiheit
 (DIR) Mexiko
 (DIR) Mexiko
 (DIR) Schwerpunkt Pressefreiheit
 (DIR) Mexiko
 (DIR) Andrés Manuel López Obrador
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Nach Wahlkampfberichterstattung: Journalist in Mexiko getötet
       
       Der Reporter Roberto Carlos Figueroa wurde zusammen mit einer weiteren
       Person am Samstag erschossen. Ein Journalistenverband fordert eine
       Untersuchung.
       
 (DIR) Drogenkartell mischt im Wahlkampf mit: „Wir wissen, wo du lebst“
       
       Schwere Vorwürfe gegen Ex-Präsidenten: Das mexikanische Sinaloa-Kartell
       soll den Wahlkampf von Andrés Manuel López Obrador finanziert haben.
       
 (DIR) Nachrichtenagentur in Mexiko schließt: Schlechte Aussicht für Journalismus
       
       Der Streik der Notimex-Mitarbeiter in Mexiko geht zu Ende – ohne Erfolg.
       Nun muss auch die letzte staatliche Nachrichtenagentur schließen.
       
 (DIR) Arbeitsbedingungen im Journalismus: Prekäre Presse in Mexiko
       
       Beim mexikanischen „Business Insider“ von Axel Springer wehren sich
       Journalist:innen gegen Mobbing und miese Bezahlung. Nicht der einzige
       Fall.
       
 (DIR) Menschenrechte in Mexiko: Der Staat bittet um Entschuldigung
       
       Jahrelang war Damián Gallardo Martínez unschuldig in Haft und wurde
       gefoltert. Die Regierung zeigt sich nun reumütig – ändert aber wenig.
       
 (DIR) Protest gegen Großprojekte in Mexiko: Eine Karawane des Widerstands
       
       Unter dem Motto „El Sur resiste“ protestieren indigene Aktivist*innen
       im Süden Mexikos gegen Regierungsprojekte wie den „Tren Maya“ in ihren
       Gebieten.