# taz.de -- Philosoph Sloterdijk über Klimawandel: „China ist größter Umweltzerstörer“
       
       > Philosoph Peter Sloterdijk über sein neues Buch und eine Menschheit, die
       > angesichts ihrer globalen Brandstiftung nicht mehr gerechtfertigt werden
       > kann.
       
 (IMG) Bild: Der Philosoph Peter Sloterdijk bei einem Interview (Archivbild)
       
       taz am wochenende: Wir sind, Ihrer Ansicht zufolge, in den letzten zwei
       Jahrhunderten mit der Ausbeutung des Planeten so weit gegangen, dass
       Prometheus es bereuen würde, uns das Feuer geschenkt zu haben. Aus der
       Perspektive des Weltalls würde uns die kleine blaue Erde als ein Planet am
       Rande des Nervenzusammenbruchs erscheinen … 
       
       Peter Sloterdijk: Die reale Katastrophe, die sich ankündigt, ist vom
       Weltall aus vermutlich kaum zu sehen. Was eine Sicht von radikal weit
       draußen und aus großer Ferne angeht, hat Nietzsche eine sehr suggestive
       Vermutung entwickelt mit weitreichenden historischen und ethischen
       Implikationen. Für den philosophischen Kosmonauten könnte der seltsame
       Planet nur einen bezeichnenden Namen tragen: „der asketische Stern“. Das
       meint einen Himmelskörper im Abseits des Alls, bewohnt von an sich selbst
       kranken, missmutigen, zur Selbstquälerei entschlossenen Menschen, deren
       einzige Freude wohl darin bestehe, sich selber wehzutun.
       
       Was hatte Nietzsche den selbstquälerischen Menschen anstelle von Demut und
       Selbstverleugnung zu empfehlen? 
       
       Eine Ethik für Virtuosen und Akrobaten. Nicht zufällig ist Zarathustras
       erster Klient, wenn man den so nennen darf, der abgestürzte Seiltänzer aus
       dem „Vorspiel“, zu dem der Prophet sagt: „Du hast aus der Gefahr deinen
       Beruf gemacht“, um ihn danach zu bestatten. Kurzum, die Formel „gefährlich
       leben“ soll die herkömmlichen Versuche ersetzen, sich durch Entselbstung
       ins Jenseits zu retten. Dem neuen Ethos liegt die Beobachtung zugrunde,
       dass Menschen in der Regel die Gefangenen von kollektiven Gewohnheiten
       sind, doch gelegentlich kommt bei Einzelnen eine Neigung auf, neue,
       unwahrscheinliche, unerprobte Gesten auszuführen. In dieser Richtung wäre
       weiterzugehen, um weiter ins Akrobatische und Künstliche hineinzuwachsen.
       Das ist sehr wohl nachvollziehbar. Wer irgendetwas intensiv übt, ein
       Musikinstrument, eine Sportart, einen Tanz, eine religiöse Observanz, wird
       wissen, was gemeint ist.
       
       Diese „akrobatische“ Perspektive Nietzsche haben Sie im Buch „Du musst dein
       Leben ändern“ aufgegriffen. Sind solche Vorschläge kompatibel mit der
       ökologischen Philosophie, wie sie etwa [1][Bruno Latour in seinem
       „Gaia-Projekt“] entwickelt hat? 
       
       Ja, durchaus. Wir sehen heute eine Tradition wiederauftauchen, die bei
       Goethe eine explizite Formulierung gefunden hatte: „Erde, sie steht so fest
       / Wie sie sich quälen läßt! / Wie man sie scharrt und plackt! / Wie man
       sie ritzt und hackt!“ heißt es in dem Festspiel „Pandora“ von 1808.
       Ähnliches hört man bei manchen Romantikern, von denen einige meinten,
       bereits ins offene Grab der Natur zu blicken. Wie einige dieser Autoren
       bemerkte Latour, dass die große Technologie der Moderne eine Summe von
       Folterwerkzeugen hervorgebracht hat, die sich dazu eignen, die Erde zu
       misshandeln. Latours „Gaia-Projekt“ lässt sich als eine Fortsetzung solcher
       älteren „Geo-dizeen“ deuten.
       
       Romantik beiseite, die Ökologie stellt sich heute auf die Basis von
       Metereologie, Klimatologie und präzisen wissenschaftlichen Daten … 
       
       Sicher, der kürzere Weg zu Latours ökopolitischen Ideen führt nicht zu
       Goethe, sondern zu James Lovelock, dem englischen Physiker und Biologen,
       der die antike Gaia-Mythologie wiederbelebt hat, indem er den Vitalgürtel
       des Planeten Terra als eine organismusartige Größe beschrieb. In Anlehnung
       an jüngere Geowissenschaftler übersetzte Latour dieses Konzept in den
       geobiologischen Ausdruck „kritische Zone“.
       
       Das heißt? 
       
       Mit der kritischen Zone ist die lebenspendende atmosphärische Hülle des
       Planeten gemeint, einschließlich der Biosphäre, des belebten Erdbodens bis
       an die Grenze der Lithosphäre. Also eine Art von vitalem Film, der sich wie
       eine Hülle um die Erde legt, von einer Dicke von kaum zehn Kilometern,
       Erdkrume und Lufthülle zusammengenommen. Innerhalb dieses Films wird
       schädliches Handeln an einer Stelle auch anderswo spürbar, so wie der ganze
       Mensch zusammenzuckt, wenn ihm ein Felsen auf den Fuß fällt. Deswegen
       konnte Latour anthropomorphe Ausdrücke wie „die Rache der Erde“ oder die
       „Antwort der Gaia auf Misshandlungen“ guten Gewissens benutzen. Obschon sie
       einen metaphorischen und evokativen Anteil behalten, verweisen sie auf
       Vorgänge, die auch in einem technischen Idiom ausgedrückt werden können.
       
       Wer ist nun aus Ihrer Sicht dieser titanische Prometheus, den es reut, den
       Menschen das Feuer in die Hand gegeben zu haben? 
       
       Prometheus ist und bleibt fürs Erste, wie der junge Marx richtig bemerkte,
       die „vornehmste Gestalt im Heiligenkalender der Philosophie“. Als
       Feuergeber ist er, neben Herakles, dem Taten-Täter und Werke-Vollbringer,
       der eigentliche Zivilisationsheros in der alteuropäischen Linie. Mit ihm
       beginnt nicht nur die positive Kultur, sondern auch der Sinn für
       Auflehnung. Prometheus ist der Erste, der das Motiv „on a raison de se
       révolter“ für sich in Anspruch nimmt. Als Titan in der Revolte zieht er die
       Rache des Zeus auf sich. Er stellt der olympischen Oberhoheit etwas
       entgegen, was man einen titanischen Anarchismus nennen könnte. Daher
       konnte Prometheus vom 18. Jahrhundert an so emblematisch, so populär, so
       tonangebend werden.
       
       Dieser Prometheus bereut noch nichts! 
       
       Natürlich nicht, doch heute sieht die Sache anders aus. Eine Menschheit,
       die im Jahr 35 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre entlässt, kann nicht
       mehr geniereligiös gerechtfertigt werden.
       
       Mit der manifesten ökologischen Krise sind wir an einer Grenze des
       neuzeitlichen, kapitalistisch geprägten Modus Vivendi angelangt. Die
       fortschreitende Ausbeutung und Zerstörung des Planeten lässt sich mit
       harten Fakten quantifizieren. Oder könnte man das alles auch ganz anders
       sehen, wie Klimawandelleugner es tun? 
       
       Nein, es genügt, das Gesamtbild aufzurollen, um zu erkennen, woran man ist.
       Wenn 100.000 Schiffe jeden Tag auf den Meeren unterwegs sind, viele noch
       mit Schweröl angetrieben; dazu 25.000 Linienflugzeuge Tag für Tag in der
       Luft. Des Weiteren über eine Milliarde Pkws, hundert Millionen Lkws in
       Bewegung, x Milliarden offene Feuerstellen täglich, Abermillionen
       Hausheizungen in Betrieb und obendrein Kohle- und Gaskraftwerke an allen
       Ecken und Enden der Welt. China allein betreibt, wie man liest, 18.000
       Kohlegruben und ist längst der bei Weitem größte Umweltzerstörer geworden,
       weit vor den USA, denen man auch bei diesem Geschäft die Führung zugetraut
       hätte.
       
       Ohne die unzähligen Tonnen Methan zu vergessen, die von den Rindern
       emittiert werden … 
       
       Die Kühe sind in diesem Zusammenhang als die wahren Feinde der Menschheit
       zu identifizieren. Sie stehen quasi gleichwertig neben der chinesischen
       Diktatur, deren Führer meinen, ein Anrecht auf nachholende Umweltverbrechen
       zu besitzen, die bis 2060 fortgehen sollen. Zurzeit verbrennt man dort 4
       Milliarden Tonnen Steinkohle pro Jahr mit entsprechenden Emissionen,
       Tendenz steigend, sofern man das jetzt dazukommende russische Erdöl
       hinzunimmt. Was wir hierzulande veranstalten, um die
       Treibhausgasemissionen zu reduzieren, spielt sich vor dem
       chinesisch-amerikanisch-indischen Hintergrund in den Größenordnungen eines
       Flohzirkus ab. Deutschland hat aktuell 1,8 Prozent Anteil an der
       Globalbelastung der Atmosphäre, doch 75 Prozent entfallen auf die
       infernalischen großen drei.
       
       Es scheint, Sie sprechen indirekt die Thesen von Günther Anders über die
       „Antiquiertheit des Menschen“ an. 
       
       Die Thesen von Anders bilden den Hintergrund meiner Überlegungen. Mir geht
       es um die Steigerung der von ihm erklärten „prometheischen Scham“
       angesichts der technischen Welt zur „Reue des Prometheus“. Auf dem Umweg
       über die Ausbeutung der fossilen Energien haben wir uns zu Zeitgenossen der
       Saurier gemacht. Vielleicht erweisen sie sich früher oder später als unsere
       engsten Schicksalsverwandten.
       
       Es dreht sich also alles um „die kritische Zone“! Welches sind die
       ethischen Konsequenzen aus der Einführung dieses Konzepts? Wie formulieren
       wir den ökologischen Imperativ der Zukunft? 
       
       Die jüngste Fassung des kategorischen Imperativs für das ökologische
       Zeitalter hat der [2][Philosoph Hans Jonas] in „Das Prinzip Verantwortung“
       vorgelegt. Jonas hat den Imperativ für das ökologische Zeitalter
       unübertrefflich formuliert: „Handle jederzeit so, dass auch künftigen
       Generationen ein menschenwürdiges Dasein auf der Erde möglich ist!“ Wer
       diesen Satz meditiert, hat Aussicht darauf, ein glaubwürdiger Zeitgenosse
       zu werden.
       
       13 Aug 2023
       
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