# taz.de -- Siegeszug der Handyfotografie: Ich möchte kein Influencer sein
       
       > Handys haben das Fotografieren demokratisiert. Aber es wird immer
       > schwieriger, Bilder zu machen, die nicht dem Kommerzdenken entsprechen.
       
 (IMG) Bild: Alles so schön bunt hier, mit dem Handy wirds noch schöner
       
       Es hätte etwas Boomerhaftes, sich nach den alten Zeiten zu sehnen, als es
       die Rolle des Vaters war, Familienurlaube fotografisch zu begleiten. Wer
       die daraus resultierenden Diaabende nie erlebt hat, möge sich glücklich
       schätzen. Nicht nur in den Familien ist die Autorität der Person mit der
       Kamera (in der Vergangenheit zumeist ein Mann) dadurch aufgelöst worden,
       dass jedes Handy eine Kamera hat und seine Besitzer:in in die Lage
       versetzt, ohne technisches Know-how problemlos fotografieren zu können.
       
       Die nicht nur in der Kunstszene weit verbreitete Meinung, dass Leute, die
       ihr Mittagessen fotografieren oder einen Konzertbesuch auf sozialen Medien
       teilen, dadurch ihr Essen oder Konzert weniger genössen, als wenn sie nicht
       fotografierten – diese Idee fand ich immer zu einfach. Zum einen
       unterscheidet sich die Geste, bildlich andere Menschen am eigenen Genuss
       teilhaben lassen zu wollen, nicht von den Diaabenden der Vergangenheit.
       
       Davon abgesehen ist es schwer zu verstehen, dass Menschen ein Interesse
       daran haben sollen, mit Absicht ihren eigenen Genuss zu mindern. Als ich
       zum Beispiel vor vier Jahren den Großen Buddha in Kamakura, Japan besuchte,
       gehörte ein Selfie natürlich mit zum Programm. Geschmälert hat das mein
       Erlebnis auf gar keinen Fall. Und ich gucke mir das Foto immer wieder gerne
       an – als könnte ich es immer noch nicht begreifen, dass ich wirklich an
       diesem magischen Ort war.
       
       Es wäre aber fatal zu glauben, dass es keine Probleme mit der
       Handyfotografie gäbe. [1][Handykameras haben das Fotografieren einfach
       gemacht]. Aber es gibt das Problem, dass gerade in sozialen Netzwerken oft
       sehr ungesunde Körperbilder kommuniziert werden, was zu erheblichen
       psychologischen Problemen führen kann.
       
       ## Fluch und Segen von KI
       
       Und die Firmen, die Handys produzieren, können es nicht lassen, ihre
       Kamerafunktionen ständig zu verbessern oder zunehmend zu verschlimmbessern.
       In zunehmendem Ausmaße greifen Handy-Hersteller auf künstliche Intelligenz
       (KI) zurück. Auf der einen Seite kann das sinnvoll sein: Im Vergleich zu
       Profikameras sind die Sensoren und Optiken in Handys einfach zu klein, um
       vergleichbare Ergebnisse zu liefern. Versprochen und erwartet werden diese
       aber. Dadurch müssen die Rohdaten, die die Hardware liefern kann, mit
       Software aufgebessert werden, ob nun durch Kombination verschiedener
       Einzelbilder oder durch Extrapolationen, also Schätzungen, oder durch KI.
       
       Wie genau das Endergebnis gemacht wurde, ist oft nicht klar. Und welche:n
       Verbraucher:in kümmert das schon? Dass mittlerweile aber Handyfotos oft
       so aussehen, als wären sie mit einem Filter versehen worden – das ist nicht
       unbedenklich. Für mich als Fotografen und Kritiker ist die reguläre
       „Camera“-App des iPhones zu problematisch, um sie zu benutzen. Wir könnten
       uns lange darüber streiten, in welchem Ausmaß Fotos wirklich die Realität
       abbilden. Interessant wird so eine Debatte nur, wenn wir nicht fragen, ob
       ein Foto eine Realität abbildet, sondern wessen Realität es abbildet. In
       meinem Foto des Großen Buddha ist die über 13 Meter hohe Bronzestatue
       dezent grün-blau-grau unter einem von Wolken verhangenen Himmel.
       
       Damals hatte ich noch ein viel älteres iPhone-Modell als heute. Was mein
       iPhone 12 aus der Szene gemacht hätte, mag ich mir nicht ausdenken.
       Vermutlich gäbe es mehr Kontraste, das Zartgrün-Blaugraue der Patina wäre
       knalliger und weniger dezent. Dieses Handy macht keine Fotos, die von einem
       ruhigen, wolkenverhangenen Tag zeugen. [2][Stattdessen liefert es mir
       Bilder, die mich an Werbeanzeigen erinnern] oder an die immer so intensiven
       Fotos, mit denen Influencer:innen zeigen, wie unnatürlich schön es
       doch überall ist. Aber wie gesagt, mich interessiert nicht, welche Ästhetik
       angebracht ist, mich interessiert, wessen Ästhetik mir hier verkauft werden
       soll. Als Benutzer meines Handys beharre ich darauf, dass es meine eigene
       ist.
       
       [3][Ich] habe kein Problem damit, einen Filter zu benutzen, wenn ich es für
       angemessen halte. Ich habe auch kein Problem damit, dass andere Leute
       Filter benutzen oder ihre Fotos auf eine Weise bearbeiten, die ich selber
       nicht besonders attraktiv finde. Was mich allerdings beunruhigt: Für viele
       Handys ist die Ausgangsbasis für ein Foto nicht mehr etwas, das vielleicht
       einer Nachbearbeitung bedarf (ob nun mehr oder weniger Kontrast, buntere
       oder dezentere Farbe zum Beispiel).
       
       ## Apps machen uns zu Influencern
       
       Die Ausgangsbasis ist stattdessen oft ein Foto, das schon sehr weit in eine
       bestimmte Richtung gedreht wurde: die Welt des Kommerzes, in der alles,
       aber auch wirklich alles am Ende nur die Frage aufwirft, was hier verkauft
       werden soll. Mit anderen Worten: Wenn die Apps in unseren Handys uns alle
       zu Influencern machen, ob wir es wollen oder nicht, dann ist das ein
       Riesenproblem. Natürlich lassen sich solche Funktionen oft abschalten –
       aber eben nur für die Leute, die wissen, wie das geht, und die nötige
       Geduld aufbringen. Im Falle meines iPhones 12 bleibt mit nur, eine andere
       App als die von Apple zu benutzen – was eine nicht unaufwändige Recherche
       erforderte.
       
       In zunehmendem Maße wird es schwieriger, mit Handys Fotos zu machen, die
       nicht aus der Welt des Kommerzes zu kommen scheinen. Die Welt, von der wir
       unsere Bilder machen, sieht nicht so aus, wie es unser Handy zeigt. Aber es
       sind auch am Ende nicht unsere Fotos, die wir machen. Stattdessen bekommen
       wir „eine Anschauung der Welt“, so der Filmemacher Guy Debord, „die sich
       vergegenständlicht hat“: die Welt als kapitalistisches Spektakel.
       
       Ohne unsere Zustimmung werden wir zu Teilnehmer:innen dieses
       Spektakels. Interessanterweise versagten Handykameras dann aber, als in den
       USA der Himmel durch Rauch und Feinstaub von Waldbränden orangerot wurde.
       Dieses Spektakel, verursacht durch die Klimakrise, die eine Ausgeburt des
       Kapitalismus ist, konnte bildlich nicht erfasst werden. Die Symbolik dieser
       Tatsache brauche ich sicher nicht zu erläutern.
       
       30 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
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