# taz.de -- Militäranalyst zur Offensive der Ukraine: „Schuld hat nicht nur der Westen“
       
       > Der Militärexperte Franz-Stefan Gady berät Regierungen in den USA und
       > Europa. Er erklärt, welche Waffen die Ukraine in diesem Krieg braucht.
       
 (IMG) Bild: Abnutzung, bis die Front kollabiert? Ukrainische Soldaten nahe Bachmut am 12. August 2023
       
       taz: Herr Gady, ist die Gegenoffensive der Ukraine erfolgreich? 
       
       Franz-Stefan Gady: Dazu müssten wir mehr über das genaue Endziel der
       Ukraine wissen, was wir bisher bestenfalls aus Äußerungen ableiten können –
       etwa die Verbindungen zur Krim zu kappen. Dies vorabgestellt, würde man
       einen Erfolg mit einer Abnutzung der russischen Streitkräfte definieren,
       was aber schwer messbar ist. Besser messbar ist der geografische
       Geländegewinn, der allerdings aktuell nicht überbewertet werden darf, wenn
       die Abnutzung der russischen Streitkräfte das militärische Primärziel wäre.
       
       Die öffentliche Erzählung über diese Offensive muss jedenfalls damit enden,
       dass die russischen Streitkräfte eine klare Niederlage erleiden. Diese
       Botschaft muss dann natürlich auch zu den westlichen Unterstützern
       durchdringen, um Waffen- und Hilfslieferungen zu gewährleisten. Stellt der
       Westen diese ein, wird der Krieg ja weitergehen, nur eben womöglich noch
       blutiger.
       
       Aber was heißt das für eine aktuelle Erfolgsbemessung? 
       
       Wenn man nach zwei Monaten mit hohen Verlusten auf der eigenen Seite und
       begrenzten Geländegewinnen dasteht, muss man sich schon irgendwann die
       Frage stellen: Wie lange noch? Wann macht es Sinn, diese Offensive zu
       stoppen und sich auf eine andere Kriegsführung, eine andere Offensive
       vorzubereiten? Meine Vermutung ist tatsächlich, dass die Offensive bis
       vielleicht spätestens Ende September kulminieren wird, also: Großräumige
       ukrainische Attacken werden möglicherweise Ende nächsten Monats enden.
       Gekämpft wird natürlich noch weiterhin werden.
       
       Was ist passiert? 
       
       Das Grundproblem ist, dass die Ukrainer eine Abnutzungsstrategie gewählt
       haben, nachdem die Strategie des Bewegungskriegs in den ersten Tagen nicht
       aufgegangen ist. Jetzt ist es eine langsamere, blutigere Strategie der
       Abnutzung, in der schwer zu bewerten ist, was als „erfolgreich“ gilt, weil
       man Verluste auf der einen mit Verlusten auf der anderen Seite ins
       Verhältnis setzen muss. Die Frage ist, welche der beiden Streitkräfte wird
       Ende nächsten Monats fähiger sein, den Krieg fortzuführen.
       
       Es scheint, dass die Ukrainer leichte Vorteile haben, was den
       Artilleriekampf betrifft, sie haben hier eine qualitative Überlegenheit in
       der Ausrüstung. Sie sind auch besser ausgebildet für den Nahkampf – für
       Grabenkämpfe und so weiter. Die ukrainischen Streitkräfte wären
       wahrscheinlich im Bewegungskrieg überlegen. Deshalb ist die große Frage:
       Schaffen es die Ukrainer noch in den nächsten Wochen in die
       Bewegungskriegsführung überzugehen. Die genaue Antwort darauf kennen wir
       noch nicht.
       
       Im Großen und Ganzen herrscht im Westen [1][eine relative Enttäuschung über
       den Verlauf der Offensive]. 
       
       Ja, das haben sich die ukrainischen Streitkräfte eben auch anders
       gewünscht, aber sie sind eben auch realistisch. Jetzt setzen sie im
       Abnutzungskrieg auf das, was Ernest Hemingway einmal mit „erst schleichend
       und dann plötzlich“ beschrieben hat: Im Abnutzungskrieg baut sich der Druck
       schleichend auf, bis es zum plötzlichen Durchbruch kommt und die Front
       teilweise kollabiert – zumindest ist das in der Militärtheorie so.
       
       Sie haben [2][nach einer Reise an die Front kürzlich angemerkt], dass die
       ukrainische Armee mit der Vielzahl unterschiedlicher Waffensysteme, die sie
       von der Nato bekommt, auch überfordert sein könnte – es komme eher darauf
       an, das gelieferte Gerät sinnvoll orchestriert einzusetzen. 
       
       Ich sprach hier hauptsächlich vom Kampf der verbundenen Waffen. Die
       ukrainischen Streitkräfte mussten in wenigen Monaten lernen, wofür andere
       vielleicht über ein Jahrzehnt gebraucht hätten. Man muss für jede Lieferung
       auch die Ausbildung und die Möglichkeit eines gut koordinierten Einsatzes
       im Verbund einkalkulieren. Angesichts dieser Opportunitätskosten wäre ich
       vorsichtig mit der Behauptung, dass die Ukraine zum Beispiel die deutschen
       Taurus-Marschflugkörper für diese Phase der Gegenoffensive wirklich
       braucht. Ich halte die Marschflugkörper für langfristig wichtig, aber
       sekundär für den Ausgang der Offensive.
       
       Reden wir also dauernd über die falschen Waffen? 
       
       Letztlich müssen wir der Ukraine liefern, was sie verlangt. Aber es ist
       primär ein Artilleriekrieg, gebraucht werden vor allem die schwere
       Artilleriemunition und die entsprechenden Rohre, die relativ schnell
       ausleiern. Auch Minenräumgerät jeglicher Art. Wer jetzt meint, mit einer
       modernen Luftwaffe könne die Ukraine gewinnen oder hätte schon gewonnen,
       dem sage ich, der Einsatz einer modernen Luftwaffe im Verbund mit anderen
       Systemen ist kurzfristig nicht realistisch und aktuell nicht militärisch
       ausschlaggebend.
       
       Insgesamt gebärden sich in der Waffenlieferungsfrage die USA und
       [3][Deutschland zurückhaltender], während vor allem die Briten auf mehr
       drängen, Stichwort Kampfjets. Ist das eine Art verabredeter
       Rollenverteilung in der Nato? 
       
       Es ist vielleicht nicht verabredet, aber eine Rollenverteilung. Die
       Probleme, die in Europa bezüglich einer möglichen Eskalation des Krieges
       gesehen werden, sind meiner Ansicht nach auch medial überzeichnet. Die
       Einzigen, die wirklich Eskalationsmanagement betreiben müssen, sind die
       Amerikaner. Die Briten können Sachen tun, die die Amerikaner nicht tun
       können, denn die Russen schauen letztlich nach Washington, nicht nach
       London.
       
       Und jede Eskalation etwa nuklearer Art wird von dort, von Washington aus
       gemanagt werden müssen. Die Kritik an der Biden-Administration, dass sie
       bestimmte Waffen der Ukraine nicht liefert, finde ich deshalb nicht
       angebracht. Die USA tun, was sie können! Deutschland dagegen hätte durchaus
       die Möglichkeit, aus dem Schatten der Amerikaner herauszutreten – und macht
       das ausweislich der umfangreichen Lieferungen ja auch schon.
       
       Auf die Marschflugkörper und auch Kampfjets zielt der Vorwurf, dass der
       Westen das Notwendige zwar oft erkenne, aber dann nicht beschließe. 
       
       Das stimmt vor allem für die Artillerieproduktion. Da hat Europa viel zu
       lange zugewartet, das muss man Europa wirklich ankreiden, das hätte schon
       Wochen nach Beginn des Krieges stattfinden können. Der Dreh- und Angelpunkt
       dessen, was die Ukraine derzeit macht, ist bodengestütztes Geschützfeuer –
       etwa mit der Panzerhaubitze 2000 oder Himars-Mehrfachraketenwerfern.
       
       Die Artillerie ist derzeit die Königin der Waffen auf dem Schlachtfeld,
       unterstützt von der Infanterie und wenn möglich mechanisierten Verbänden
       aus Schützen- und Kampfpanzern. Es ist aber auch nicht die Schuld des
       Westens, wenn diese Waffen teilweise nicht richtig eingesetzt werden oder
       militärische Fehler auf dem Schlachtfeld gemacht werden. Es ist verkürzt zu
       sagen, die Schuld an der gegenwärtigen Situation in der Ukraine liegt in
       Europa oder in den USA.
       
       Hieß es nicht letztes Jahr, die frühen Erfolge der Ukraine seien der guten
       Schulung namentlich durch die Briten zu verdanken, die dem strikt
       hierarchischen sowjetischen Traditionsdenken der Russen überlegen sei? 
       
       Auf den hochintensiven Kampf, zu dem die Ukraine jetzt genötigt wurde, wäre
       auch kein westliches Land vorbereitet. Die Erfolge zu Beginn des Krieges
       gegen die Ukraine sind auch den vielen Freiwilligen zu verdanken, und die
       wurden nicht vom Westen ausgebildet, sondern haben sich auf Youtube
       angeschaut, wie man Panzerabwehrwaffen bedient, und sind dann auf eigene
       Faust in den Kampf gezogen.
       
       In der Anfangsphase wurde der Stoß auf Kyjiw im Wesentlichen von zwei
       ukrainischen Artilleriebrigaden abgewehrt, die nach sowjetischem Muster
       gekämpft haben. Aber speziell zu Beginn dieses Kriegs ist über Social Media
       wirklich viel Unsinn verbreitet worden, das hat mich sehr geärgert.
       
       An anderer Stelle haben Sie auch schon einmal
       „Schreibtisch-Militäranalysten“ kritisiert. Was macht einen guten
       Militäranalysten aus? 
       
       Es gibt viele Leute, die arbeiten sehr gut vom Schreibtisch aus. Meine
       Kritik betraf einige Twitter(X)-User, die sich als Militäranalysten
       ausgeben und nachweislich Unwahrheiten verbreiten. Das Wichtigste ist,
       zuzugeben, wenn man etwas nicht weiß, wenn die Datenlage unzureichend ist.
       Man sollte sich nicht gleich zu Beginn kategorisch auf einen Standpunkt
       festlegen, denn dann wird man im Folgenden vor allem damit beschäftigt
       sein, die eigene These immer weiter zu untermauern, statt sich der
       Wirklichkeit zuzuwenden.
       
       Ich halte es außerdem für wünschenswert, das Militärhandwerk wenigstens mal
       beschnuppert zu haben. Kriegsführung ist beides: Handwerk und Intuition.
       Letztere wird dann oft in der Retrospektive als Strategie bezeichnet, aber
       die besten Kommandeure der Militärgeschichte haben immer intuitiv und aus
       dem Bauch heraus Entscheidungen getroffen.
       
       25 Aug 2023
       
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