# taz.de -- Angriff auf Israel: Erinnerungen an die Nakba
       
       > Die Bilder der im Gazastreifen fliehenden Menschen erinnern an den Beginn
       > der Flüchtingskatastrophe 1948. Die Spirale der Gewalt muss aufhören.
       
 (IMG) Bild: Palästinenser:innen auf der Flucht vor israelischen Angriffen in den Süden des Gazastreifens, 13. Oktober 2023
       
       Das sinnlose Blutbad, das durch den Beschuss des Krankenhauses in Gaza
       verursacht wurde, zeigt auf grausame Weise die schreckliche Gefahr, die
       jetzt über dieser Region schwebt: der Verlust der Kontrolle über die
       Hauptakteure des Konflikts.
       
       Angesichts einer unerfahrenen israelischen Regierung, die um jeden Preis
       die Oberhand zurückgewinnen will, und einem Hamas-Islamischen
       Dschihad-Gespann, das alles gibt, um zu überleben, kann sich ein Grauen wie
       das im Krankenhaus jederzeit wiederholen. Das zieht den Nahen Osten in
       einen unaufhaltsamen Kreislauf der Gewalt hinein. Wie weit entfernt scheint
       dieser erste Tag des Konflikts zu sein, als die Männer der Hamas zu
       jedermanns Überraschung die Grenze überquerten, die als unpassierbar galt.
       
       Für einen Moment hätte man glauben können, dass die Kämpfer der Hamas ein
       bestimmtes politisches Ziel verfolgten, nämlich, das sich abzeichnende
       Abkommen zwischen Israel und Saudi-Arabien zu sprengen – ein Abkommen, das
       vermutlich zu einem Separatfrieden unter Ausschluss der Palästinenser
       führen würde. Aber die sinnlosen Massaker, derer sie sich schuldig gemacht
       haben, zeigten, dass ihnen etwas ganz anderes vorschwebte.
       
       Für sie ging es nicht nur um Politik, sondern darum, einen jeglichen
       Frieden unmöglich zu machen, indem sie einen Amoklauf an Rachegelüsten in
       dieser unglücklichen Region zusammenbrauten. Indem sie das Feuer auf eher
       pazifistische [1][junge Leute eröffneten, die ahnungslos ausgelassen
       feierten], auf eher linke Kibbuzbewohner und auf die Menschen in
       wirtschaftlich ärmeren Ortschaften in der Region, sie ermordeten und
       wahllos ein Blutbad unter Männern, Frauen, Kindern und Babys anrichteten,
       hat die Hamas ihr wahres Gesicht gezeigt.
       
       Sie hat einen der [2][schlimmsten Albträume im jüdischen Gedächtnis] zum
       Leben erweckt, die Pogrome in Russland und Mitteleuropa. Damit Juden und
       Jüdinnen in Sicherheit würden leben können, wurde die Gründung des Staates
       Israel nach dem Holocaust international gerechtfertigt. Die Hamas hat mit
       dem Angriff ihre stete Botschaft unterstrichen: „Wir wollen euer aller
       Tod.“ Und die so geschickt aufgestellte Falle ist zugeschnappt und hat die
       ganze Welt in einen Schockzustand versetzt.
       
       ## Nur die Bilder waren damals schwarz-weiß
       
       Gedemütigt und zornig lässt die inkompetente rechtsnationale Regierung von
       Benjamin Netanjahu das Feuer der Hölle auf die unglücklichen Bewohner Gazas
       niedergehen. Eine Katastrophe für die vielen Menschen. Dabei sollte das
       Ziel die Hamas sein. Tatsächlich aber trifft es die Dörfer und Städte. Man
       ist erinnert an Passagen in der Bibel, in denen Gott die Feinde Israels
       seinen Zorn spüren lässt. Diejenigen, die unter den Bomben sterben, sind
       keine menschlichen Wesen mehr, sondern „Tiere“.
       
       Da scheint es legitim zu sein, Wasser, Nahrung, Strom und Treibstoff zu
       kappen. Gebäude, Schulen und Moscheen gelten nicht mehr als Wohn-, Lern-
       oder Gebetsorte, sondern Höhlen, in denen sich Terroristen feige hinter dem
       Rücken der Zivilbevölkerung verstecken. Israel hat angeordnet, die
       Bevölkerung im Norden des Gazastreifens in den Süden des Territoriums zu
       evakuieren.
       
       Die Bilder von hunderttausenden Palästinensern, die mit Matratzen,
       Küchenutensilien und zerlumpten Koffern ihre verängstigten Kinder hinter
       sich herziehen, haben das Schreckgespenst der großen Vertreibung von 1948,
       der Nakba, wie sie sagen, wachgerufen. Der einzige Unterschied besteht
       darin, dass die Bilder damals schwarz-weiß waren …
       
       Das desolate Spektakel hat allen, insbesondere in der arabischen Welt,
       gezeigt, dass diejenigen, die den Preis für den von der Hamas provozierten
       mörderischen Wahnsinn zahlen, nicht die Anführer dieser islamistischen
       Bewegung sind, sondern die unglücklichen Menschen, die fliehen, erneut
       fliehen, immer weiter fliehen, bis sie auf [3][die verschlossenen Grenzen
       des Gazastreifens], ihres Gefängnisses, stoßen.
       
       Auch Israel hat jetzt eine unterschwellige Botschaft gesandt: „Wir wollen
       euch nicht in diesem Land sehen, wir wollen euch alle vertreiben!“ Fantasie
       gegen Fantasie, Albtraum gegen Albtraum, wir sind zum Nullpunkt des
       israelisch-palästinensischen Konflikts zurückgekehrt. Doch vielleicht
       müssen wir uns daran erinnern, dass wir das Eisen erst in Momenten eines
       großen Schocks, wenn es weiß glühend ist, schmieden können.
       
       ## Kein friedlicher Naher Osten ohne Palästinenser
       
       Die flächendeckenden Umwälzungen, die der Krieg verursacht hat, zwingen
       alle zum Nachdenken. [4][Arabische Länder haben sich bereit gezeigt, mit
       Israel Frieden zu schließen] – selbst um den Preis, die palästinensische
       Sache zu opfern. Der 7. Oktober hat erneut klar gezeigt, dass die
       Palästinenser mit einbezogen werden müssen. Netanjahu und seine
       rechtsextremen Verbündeten werden, obwohl sie seit Monaten mit massiver
       Kritik aus dem Volk konfrontiert werden, kaum zu einer strategischen
       Änderung bereit sein, die so sehr im Widerspruch zu ihrer Politik steht.
       
       Aktuell droht noch immer der Einmarsch in den Gazastreifen. Das würde
       sicher erneut, wie es schon in früheren militanten Konfrontationen der Fall
       war, zu Tausenden Toten und endlosem Leid auf beiden Seiten führen. Hass
       erzeugt Hass, und je größer der Hass ist, desto größer der Sieg für die
       Hamas, ihre Verbündeten und ihre Beschützer. Ob es uns gefällt oder nicht,
       das bisher Gültige ist Vergangenheit. Beide Seiten sind aufgefordert, sich
       zu entscheiden.
       
       Wenn endlich ein gerechter und dauerhafter Frieden hergestellt werden soll,
       müssen die einen auf die Zerstörung des „zionistischen Gebildes“
       verzichten, die anderen auf die endlose Besatzung. Aber wer wird diese
       Weisheit, diese Intelligenz, diesen Mut haben? Die Regierenden in der
       Region scheinen dazu kaum in der Lage zu sein. Selbst wenn sie in die Enge
       getrieben werden, werden Israelis immer argumentieren, dass es im
       gegnerischen Lager keinen glaubwürdigen Gesprächspartner gibt, aber das
       stimmt nicht.
       
       Da ist zum Beispiel [5][Marwan Barghouthi] – ein Mann, den weite Teile
       seines Volkes als den palästinensischen Nelson Mandela betrachten, und der
       seit mehr als zwanzig Jahren in einem israelischen Gefängnis sitzt. Vor
       seiner Inhaftierung sagte er der Washington Post im Jahr 2002, dass mit dem
       Ende der Besatzung „der Weg klar sein wird:
       
       Die unabhängigen und gleichberechtigten Nachbarn Israel und Palästina
       werden in der Lage sein, über eine friedliche Zukunft zu verhandeln, indem
       sie enge Beziehungen knüpfen, sowohl wirtschaftlich als auch kulturell.“
       Ein Traum? Diejenigen, die glauben, dass Israel von der Landkarte getilgt
       werden kann, diejenigen, die glauben, dass Palästina für immer besetzt
       bleiben kann, träumen nicht minder. Nur ist ihr Traum ein Albtraum, unser
       aller Albtraum.
       
       Aus dem Französischen von Barbara Oertel
       
       19 Oct 2023
       
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 (DIR) Selim Nassib
       
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