# taz.de -- 375 Jahre Westfälischer Frieden: Frieden muss man wollen
       
       > Der Westfälische Frieden von 1648, dieses Jahr in Münster und Osnabrück
       > gefeiert, liegt Jahrhunderte zurück. Lernen kann man von ihm bis heute.
       
 (IMG) Bild: Verteidigungsminister Boris Pistorius(l) und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko in Münster
       
       OSNABRÜCK taz | Dass deutsche VerteidigungsministerInnen Friedensschlüsse
       loben, ist nichts Besonderes. Selten ist, dass sie dabei ans 17.
       Jahrhundert denken. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat es
       getan, auf der „Westfälischen Friedenskonferenz“ in Münster, Mitte
       September. Es ging um Kriege der Gegenwart, nicht zuletzt um die Ukraine,
       aber minutenlang sprach Pistorius über den Westfälischen Frieden von 1648,
       das Ende des Dreißigjährigen Krieges.
       
       Er sei „mit dem Westfälischen Frieden groß geworden“, sagte Pistorius in
       seiner Eröffnungsrede. Dieser stelle „noch heute eine echte
       Inspirationsquelle“ dar und lehre, „mit ausreichendem Willen, den richtigen
       Bedingungen, vor allem mit Mut und Kreativität, ist Frieden auch in den
       scheinbar aussichtslosesten Fällen möglich“.
       
       Dass Pistorius [1][dem Vertragswerk von 1648] seine Reverenz erweist, noch
       dazu im Münsteraner Rathaus, damals einer der Schauplätze des Versuchs,
       statt der Waffen die Diplomatie siegen zu lassen, als Tagungsort der
       katholischen Seite, ist kein Zufall. „Der Westfälische Frieden ist bis
       heute vorbildhaft“, sagt Siegrid Westphal der taz, Professorin für
       Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück. 2023 wird
       dessen 375-Jahre-Jubiläum nicht nur in Münster aufwändig begangen, auch in
       Osnabrück, damals Tagungsort der Protestanten.
       
       Osnabrück kennt Pistorius besonders gut. Hier war er Ratsmitglied und
       Oberbürgermeister. Osnabrück hat den Frieden von 1648 dieses Jahr exzessiv
       gefeiert – teils mit unfreiwilliger Bizarrerie, vom
       Friedens-Frühstücksbrettchen bis zum Friedens-Bleistift. Historikerin
       Westphal, seit Beginn der 2000er auf 1648 spezialisiert, war in die
       Planungen des Jubiläums eingebunden. „Anfangs hatte ich das Gefühl, der
       Frieden ist nur ein Label, für einen Tourismuseffekt“, sagt sie. „Heute
       denke ich: Wir haben viel erreicht.“
       
       ## Überraschend aktuell
       
       Als in Osnabrück die Vorbereitungen des Jubiläums beginnen, ahnt niemand,
       was am 24. Februar 2022 geschehen wird: Russland überfällt die Ukraine.
       „Danach sah die Welt anders aus“, sagt Westphal. „Das Jubiläum bekam
       plötzlich eine ganz neue Aktualität.“ Seine über 200 Veranstaltungen sieht
       sie nicht als Übersättigung. „Angesichts der derzeitigen Weltlage bin ich
       froh um jedes Mal, wenn das Wort ,Frieden' fällt.“
       
       Westphal plädiert dafür, verstärkt die einzelnen Akteure des Friedens von
       1648 in den Blick zu nehmen, als Individuen. „Wir fokussieren ja oft auf
       Staaten: Frankreich will dies, Schweden das. Aber das ist eine starke
       Reduktion. Die volle Komplexität der Aushandlungsprozesse lässt sich so
       nicht ermessen.“
       
       Der Friedensschluss von 1648 lehre zudem, die Bedeutung vermeintlich
       einflussärmerer Verhandler nicht zu unterschätzen. 1648 waren das die
       Reichsstände, von den Kurfürsten bis zu den Vertretern der Reichs- und
       Freien Städte. Indem die Friedensforschung vereinfachenden Sichtweisen
       entgegentrete, sei sie ein „notwendiger Stachel“, sagt Westphal.
       Friedensforschung versteht sie „auch als politisches Statement“. Dass
       Westphals Nachname so frappant zu ihrem Forschungsfeld passt, amüsiert sie.
       
       Der Westfälische Frieden: Dass fast jeder schon von ihm gehört hat, liegt
       auch daran, dass er so gut erforschbar und erforscht ist. Hauptgrund sind
       [2][die „Acta Pacis Westphalicae“] (APW), eine historisch-kritische Edition
       von Tagebüchern, Verhandlungsprotokollen, Briefwechseln,
       Geheiminstruktionen und Presseartikeln. 49 Bände mit 35.000 Seiten umfasst
       sie bereits. 1962 erschien Band 1, und bis heute ist kein Ende in Sicht.
       
       ## Mechanismen für den Frieden
       
       „Da stehen noch viele Materialien aus“, sagt Michael Rohrschneider,
       Professor an der Universität Bonn und Leiter des dortigen Zentrums für
       Historische Friedensforschung, an dem die Edition der APW angesiedelt ist.
       Zwei weitere Bände sind derzeit in Arbeit. Auch ein Digital-Portal ist
       geplant.
       
       Die APW umfassen Quellen aus 150 europäischen Archiven und Bibliotheken.
       „Bei keinem anderen europäischen Frieden haben wir eine so gute
       Arbeitsgrundlage“, sagt Rohrschneider. Der Westfälische Frieden lasse sich
       nicht in die Gegenwart transferieren, dennoch lohne sich sein Studium auch
       im Hinblick auf aktuelle Kriege und Friedensbemühungen: „Aufschlussreich
       ist, welche Mechanismen damals geholfen haben, den Frieden zu erreichen,
       von der Mediation bis zu internationalen Garantien.“ Wie Westphal ist
       Rohrschneider überzeugt: „Vom Westfälischen Frieden können wir viel lernen.
       Im fernen Spiegel der Vergangenheit sehen wir die Gegenwart. Und aus jeder
       Gegenwart heraus stellen wir Fragen an die Vergangenheit, immer von neuem.“
       
       Besonders die Tagebücher sind spannend. Sie gewähren einen Einblick in den
       Alltag der Gesandten. Und der war nicht ohne Einfluss auf die Verhandlungen
       – vom nasskalten Wetter über das Wohnen und Tagen auf engstem Raum bis zu
       Freundschaften, auch über konfessionelle Grenzen hinweg.
       
       Eine Perspektive, die auch die [3][Osnabrücker Ausstellung „Dem Frieden ein
       Gesicht geben]. Leben und Verhandeln beim Westfälischen Friedenskongress
       1643–1648“ einnimmt, zu sehen im Diözesanmuseum wie im Stadtraum, vom
       Nachttopf bis zur Kanonenkugel der Stadtwache.
       
       Auch Zeremonialstreitigkeiten sind in den APW dokumentiert und eine Lehre
       für die Gegenwart. Wer sitzt wo am Tisch? Wer kommt wann durch welche Tür?
       Sprechend allein, dass die Verhandlungen auf zwei Städte gesplittet wurden:
       „Das hat für Entspannung gesorgt“, sagt Rohrschneider.
       
       ## Keine Schuldigen benannt
       
       „Man kann ja nicht davon ausgehen, dass jede Verhandlungspartei allen
       anderen direkt begegnen möchte.“ Aber es gibt auch Dinge, die würde
       Rohrschneider aus dem Frieden von 1648 nicht in die Gegenwart übernehmen.
       Zum Beispiel, dass 1648 keine Kriegsschuldigen benannt wurden. „Klar, wenn
       man das macht, ist das oft die Grundlage für neue Kriege. Aber nehmen wir
       die Ukraine: Als demokratische Gesellschaft können wir keine Amnestie für
       Kriegsverbrecher wollen.“
       
       Seit den 1990ern wurde der Westfälische Frieden „in der hohen Politik nie
       so stark rezipiert wie derzeit“, bilanziert Rohrschneider. „Angefangen hat
       das 2016, mit dem Krieg in Syrien.“ Heute habe er eine
       gesellschaftspolitische Relevanz, „die nicht vorhersehbar war“. Und auch
       die Jubiläen selbst sind mittlerweile Gegenstand der Forschung. Gerade
       läuft an der Universität Bonn Rohrschneiders Hauptseminar „Die Feiern zum
       Westfälischen Frieden in den Städten Münster und Osnabrück“. Auch das ist
       eine Großaufgabe: Die erste fand 1648 statt, die letzte läuft noch.
       
       Über 100 Gesandtschaften kamen 1648 zusammen, über 140 Reichsstände. Der
       Blick auf ihr Tun öffnet Augen für Lösungen von Israel/Gaza und der Ukraine
       bis Subsahara-Afrika. Aber dafür muss man den Frieden auch wollen. Das ist
       vielerorts nicht in Sicht.
       
       31 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/finde/langDatensatz.php?urlID=741&url_tabelle=tab_quelle
 (DIR) [2] http://www.pax-westphalica.de/
 (DIR) [3] /375-Jahrestag-des-Westfaelischen-Friedens/!5940675
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Harff-Peter Schönherr
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Nahost-Konflikt
 (DIR) Osnabrück
 (DIR) Schiiten
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Israel nach Hamas-Anschlag: Strategie für Gaza
       
       Die israelische Regierung verzögert die angekündigte Bodenoffensive im
       Gazastreifen. Die USA fordern Pläne für eine künftige Regierung in dem
       Küstengebiet.
       
 (DIR) 375. Jahrestag des Westfälischen Friedens: Osnabrück brät die Friedenswurst
       
       Osnabrück begeht den 375. Jahrestag des Westfälischen Friedens mit einer
       Veranstaltungsflut. Das Spektakel soll richtungsweisend sein, ist es aber
       nicht.
       
 (DIR) Essay zu Sunniten und Schiiten: Auf ewig Rivalen und Feinde
       
       Der Publizist und Islamwissenschaftler Wilfried Buchta über „Die
       Strenggläubigen. Fundamentalismus und die Zukunft der islamischen Welt“.