# taz.de -- Fallibilisten auf dem Land: Die Möglichkeit, unrecht zu haben
       
       > Rechthaberei macht keinen Spaß. Menschen, die ihre Fehlbarkeit erkannt
       > haben, sind einfach die sehr viel angenehmere Gesellschaft. Oder?
       
 (IMG) Bild: Staunen statt Polemik: Was denken sie auf hohen Bergwiesen über Leihmutterschaft oder Sterbehilfe?
       
       Im Herbst half ich eine Woche als Freiwillige bei einem Südtiroler
       Bergbauern. Der [1][Bauer] hieß Karl und bewirtschaftete den Hof allein,
       seit sein Bruder plötzlich gestorben war. Der Hof ist so baufällig, dass
       von außen nicht klar war, welcher Teil bewohnt war und welcher nicht, aber
       an den Fenstern hingen rote Geranien. Karl ging mühsam wegen seiner
       kaputten Knie und war von großer Freundlichkeit gegenüber uns Städtern,
       aber auch gegenüber [2][den Kälbern], die er spät am Abend im Stall laufen
       ließ. Sie sprangen dann in Bocksprüngen durch die Gasse und Karl versuchte,
       das eine Kalb in Richtung seiner Mutter zu schieben, die angebunden an
       einer Raufe stand. Die Kuh rief dringlich nach dem Kalb, aber ihr Kind
       hatte kein Interesse an ihr, sondern hüpfte dem anderen Kalb hinterher.
       
       Karl erzählte gern, vom Wetter, das keinen Regeln mehr folgt, von seinen
       Brüdern, von [3][den Wölfen in der Umgebung] und dem Streit um sie. Er
       sagte, dass es sonderbar sei, dass die Tierschützer nie zu bedenken
       schienen, dass es für die Schafe ein besonders schmerzhafter Tod sei, von
       Wölfen gerissen zu werden. Er sagte das ohne Polemik, eher überrascht von
       dieser Leerstelle bei Leuten, die so klare Meinungen vertraten.
       
       Karl sagte nicht, was er selbst für richtig hielt im Umgang mit den Wölfen,
       und während ich durch den Schlamm zum Misthaufen ging, dachte ich darüber
       nach, dass ich gern seine Meinung über alles möglich hören würde, über
       Zuwanderung, Sterbehilfe und Leihmutterschaft.
       
       Vielleicht, weil Karls Meinungen weniger dem Druck eines gewissen Milieus
       zu folgen schienen, vielleicht, weil sie ohne den Geruch von Dogma und
       moralischer Überlegenheit daherkamen. Vielleicht, weil Karl in einer
       Arbeitspause sein Mitgefühl für die Leute geäußert hatte, die vor den
       Waldbränden in Griechenland evakuiert worden waren. Ich glaube nicht, dass
       er selbst je Urlaub gemacht hat.
       
       „Möglicherweise neigen Sie zu Idealisierungen, Frau Gräff“, hörte ich da
       jemanden sagen. Ich musste laut gedacht haben. Ich schaute auf und sah den
       Ethikrat, der an drei Rechen gelehnt neben dem Misthaufen stand. Der
       Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir
       gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Ich schätze den
       Ethikrat, aber ich hatte das Stadtleben hinter mir gelassen und vielleicht,
       um ehrlich zu sein, auch den Ethikrat, der mich vor allem auf meine
       Unzulänglichkeiten hinweist.
       
       „Mag ja sein“, sagte ich zum Rat, „aber können Sie mir sagen, warum mir das
       Gespräch mit Karl lohnender scheint als das mit meinesgleichen, jenseits
       aller Romantisierung und der Tatsache, dass ich dem Südtirolerisch nicht
       immer ganz folgen kann?“ „Nun“, sagte der Ratsvorsitzende und lehnte, wie
       mir schien, mit gönnerhafter Miene, den Rechen gegen die Stallwand. „Sie
       schreiben Karl das Konzept der Fallibilität zu.“ „Fallibilität“,
       wiederholte ich, „können Sie das vielleicht auch für Laien erklären?“
       „Fallibilität meint natürlich, die Bereitschaft, die eigene Haltung für
       fehlbar zu halten, einen frühen Vertreter haben wir da in [4][Arkesilaos
       von Pitane]“, sagte der Vorsitzende.
       
       „Warum ist das Konzept nicht verbreiteter?“, fragte ich. „Ich meine, wieso
       sollte man überhaupt annehmen, die eigene Meinung sei unfehlbar?“
       
       Aber da näherte sich Karl mit einer Mistschubkarre, und der Rat verlor
       alles Interesse an mir. „Herr Karl“, rief der Vorsitzende, „auch wir wollen
       unsere Unterstützung anbieten.“ Er wies auf mich: „Sicher ist Frau Gräffs
       Hilfe allein nicht ausreichend.“ „Sind Sie eigentlich Fallibilisten“,
       schrie ich, aber niemand hörte mir zu.
       
       23 Oct 2023
       
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