# taz.de -- Launch der ePatientenakte: Für Forschung und Industrie
       
       > Die Bundesregierung treibt die Digitalisierung des Gesundheitssystems
       > voran. Patient:innen dürften allenfalls in zweiter Linie profitieren.
       
 (IMG) Bild: Kampf dem Plastik
       
       Bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems geben sich alle Beteiligten
       viel Mühe, zu betonen, um was es gehen soll: das Wohl der Patient:innen.
       Und tatsächlich ist nicht auszuschließen, dass insbesondere komplizierte
       Fälle davon profitieren, wenn das medizinische Personal einen umfassenderen
       Einblick in die Gesundheitsgeschichte hat. Wenn also von der Hausärztin bis
       zur Klinik, von der Psychotherapeutin bis zum Physiotherapeuten alle
       Beteiligten schnell die Übersicht der Medikation zur Hand haben, die
       Therapieansätze und die Ergebnisse bildgebender Verfahren. Dass sich aus
       der umfassenden Datenüber- und -einsicht tatsächlich ein Vorteil für die
       Betroffenen komplizierter Krankheiten ergibt, ist aber keineswegs gesetzt –
       ebenso wenig wie Vorteile für die unkomplizierten Fälle.
       
       Das hat mit einer Reihe von Faktoren zu tun und auch damit, dass die Pläne
       zahlreiche Risiken bergen, die alle Versicherten kennen sollten.
       Schließlich werden sie voraussichtlich kommendes Jahr die Entscheidung
       treffen müssen, ob sie [1][eine elektronische Patientenakte (ePA)] wollen
       oder nicht. Und wer keine Entscheidung trifft, trifft auch eine:
       Nichthandeln heißt in diesem Fall Zustimmung.
       
       Die Zustimmung gilt zum einen dafür, dass alle Ärzt:innen und
       medizinischen Behandler:innen Einblick in die Diagnosen, die Ergebnisse
       bildgebender Verfahren, Medikamente oder Behandlungshistorie bekommen. Ein
       Einblick, der insbesondere für von Diskriminierung betroffene Gruppen
       Nachteile bedeuten kann – etwa bei Menschen, die nach Körperformen,
       zugeschriebener Herkunft oder aufgrund einer Diagnose aus der Vergangenheit
       aus der Masse herausstechen. So zeigen Studien, dass Menschen mit
       Adipositas im Gesundheitssystem benachteiligt werden. Ihre Leiden werden
       weniger ernst genommen, auf das Gewicht geschoben, mitunter bleiben
       diagnostische Verfahren aus und Krankheiten werden übersehen. Ähnliches
       berichten Menschen, in deren Akte sich ein Diagnosecode für eine psychische
       Erkrankung befindet: Im Zweifelsfall wird ein körperliches Leiden, das sie
       in die Praxis gebracht hat, als psychosomatisch klassifiziert.
       
       Doch neben dem Einblick für behandelndes Personal plant die Bundesregierung
       weitere und weitgehende Datenweitergaben: an Forscher:innen aus
       Wissenschaft und Industrie. Der gängige Argumentationsweg ist hier häufig
       die Coronapandemie: Deutschland sei in diesem Kontext auf Daten aus anderen
       Ländern angewiesen gewesen. Diese Argumentation vergisst allerdings ein
       Detail: Deutschland hat während der Pandemie auch in Bereichen, in denen
       das auch ohne digitale Patientenakte und einen Zugriff darauf für die
       Forschung möglich gewesen wäre, lieber nichts getan. So wurden etwa
       hierzulande deutlich weniger positive Proben sequenziert, also nach einem
       genommenen Abstrich der Virustyp bestimmt, als etwa in Großbritannien oder
       Dänemark. Das wäre eine Forschung ganz ohne persönliche Daten gewesen.
       
       ## Adam und ePa
       
       Dazu kommt: [2][Die Daten, die Industrie und Wissenschaft bekommen, werden
       nicht anonym sein können]. Das hängt zum einen damit zusammen, dass
       Gesundheitsdaten in der Regel derart individuell sind, dass schon mit einem
       Teil der Informationen eine Identifizierung möglich ist. Zusätzlich können
       durch Freitextfelder, wo also Ärzt:innen im Fließtext Informationen
       festhalten, weitere persönliche Daten an Dritte gelangen. So kommt etwa
       Sylvia Thun, die als Professorin an der Berliner Universitätsklinik Charité
       tätig ist, [3][in einer Stellungnahme für den Gesundheitsausschuss des
       Bundestags] zu dem Ergebnis: Die „vollautomatisierte Ausleitung ohne
       vorherige Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger [würde] zu einer Verletzung
       des Datenschutzrechts und des Arztgeheimnisses führen“. Sie fordert, dass
       Patient:innen der Nutzung ihrer Daten für die Forschung aktiv zustimmen
       müssen – und zwar differenziert nach Forschungsthemen und Dokumenten.
       Vorgesehen ist aktuell, dass auch bei der Weitergabe der Daten an die
       Forschung Schweigen Zustimmung bedeutet.
       
       Nun müsste das alles nicht dagegen sprechen, sich eine ePA einrichten zu
       lassen – vor allem dann nicht, wenn man sich einen Nutzen davon verspricht.
       Allerdings: Dass Patient:innen darauf hoffen können, dank einer
       Berücksichtigung der Gesundheitshistorie besser behandelt zu werden, ist
       keineswegs sicher. Denn bei einer Anhörung im Gesundheitsausschuss wurde
       kürzlich ein entscheidendes Detail deutlich: Ob die Behandler:innen
       dazu verpflichtet werden, die Daten aus der elektronischen Patientenakte
       zur Kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen, ist längst nicht ausgemacht.
       Realistisch betrachtet ist es extrem unwahrscheinlich, dass eine solche
       Pflicht kommen wird. Denn die Ärzt:innenschaft wird sich mit allen
       Mitteln dagegen wehren. Das ist nachvollziehbar: Schließlich haben die
       wenigsten von ihnen Extra-Zeit, um sorgfältig lange Datenreihen
       durchzugehen oder zurückliegende Diagnosen zu durchforsten. Ganz abgesehen
       von dem Haftungsrisiko, falls jemand etwas übersieht.
       
       Ob der Datenschatz, der in der elektronischen Akte gespeichert wird, so man
       als Versicherte:r nicht widerspricht, individuell also überhaupt einen
       Vorteil bringen wird, ist unklar. Wobei die deutsche Gesetzgebung, die
       zumindest ein Widerspruchsrecht vorsieht, schon das kleinere Übel zu sein
       scheint: Die EU plant ein ähnliches Projekt der Digitalisierung von
       Patientendaten – ohne die Möglichkeit zum Widerspruch.
       
       Klar ist, wer in jedem Fall profitiert: Akteure aus der wissenschaftlichen
       und industriellen Forschung. Die bekommen über das Forschungsdatenzentrum
       Zugriff auf die Daten. Damit wird klar, um was es bei den
       Digitalisierungsvorhaben im Gesundheitssystem eigentlich geht:
       Standortförderung. Wenn die Patient:innen nebenbei profitieren, ist das
       im Sinne der Erfinder:innen. Aber wenn nicht – dann wird niemand die
       elektronische Patientenakte wieder abwickeln.
       
       11 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.gematik.de/anwendungen/e-patientenakte
 (DIR) [2] https://www.heise.de/hintergrund/Bundesdatenschutzbeauftragter-Klageverfahren-bei-eHealth-Gesetzen-sicher-9318231.html
 (DIR) [3] https://www.bundestag.de/resource/blob/977264/861be0ec7a208cc67b88528a48ca6fb7/20_14_0165-13-_Prof-Dr-Sylvia-Thun_GDNG_nicht-barrierefrei.pdf
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Svenja Bergt
       
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