# taz.de -- Verhaftung von Messina Denaro jährt sich: „Die Mafia ist immer die Mafia“
       
       > Maurizio de Lucia hat die Ermittlungen gegen den Mafiaboss Matteo Messina
       > Denaro geleitet. Die Cosa Nostra sieht er geschwächt, aber weiter
       > gefragt.
       
 (IMG) Bild: Giuseppe Cimarosa war schon immer aktiv gegen die Mafia – am 19. Januar 2023 feierte er die Verhaftung seines Onkels Messina Denaro
       
       taz: Herr de Lucia, wie haben Sie den Tag der Festnahme von Matteo Messina
       Denaro vor genau einem Jahr in Palermo erlebt? 
       
       Maurizio de Lucia: Eigentlich begann das Ganze schon früher, am Morgen des
       14. Januar. Seit diesem Tag hatten wir nämlich Grund zu der Annahme, dass
       es sich bei dem Andrea Bonafede, der am Montag, dem 16. Januar, einen
       Termin in der Privatklinik La Maddalena in Palermo hatte, in Wirklichkeit
       um Matteo Messina Denaro handelte. Hier beginnt der letzte Teil einer sehr
       langen Geschichte. An diesem Montag habe ich mich mit dem Kollegen Paolo
       Guidi, der die Ermittlungen mit mir durchgeführt hat, schon um 6.50 Uhr
       getroffen. Dann haben wir vom Büro aus in anderthalb Stunden alles getan,
       was möglich war, die Carabinieri mussten an Ort und Stelle arbeiten, und
       wir standen hier fast blind und warteten auf Informationen, auch wenn
       Drohnen die Situation überwachten.
       
       Woher wussten Sie, dass Andrea Bonafede einen Termin hatte? 
       
       Wir haben den Server der Klinik schon länger überwacht. Als wir
       registrierten, dass Andrea Bonafede sich anmeldete, wurde der Alarm
       ausgelöst. Messina Denaro, den wir da noch nicht identifiziert hatten,
       wartete nach der Anmeldung auf dem Parkplatz darauf, aufgerufen zu werden,
       es waren noch die Zeiten von Corona. Er war ruhig. Die Carabinieri
       schlossen alle Türen. Wir identifizieren ihn, das Bild der Kameras wurde
       auf alle Handys übertragen. Hier im Büro hatte mein Kollege Guida sich die
       Jacke angezogen, er ist vom Temperament noch süditalienischer als ich, in
       dem Sinne, dass er aufgeregt hin und her lief und alle fünf Minuten sagte:
       „Er ist entkommen, er ist entkommen.“
       
       Verständlich! 
       
       Dann ruft ein Journalist an und fragt mich, was in der Maddalenaklinik los
       sei, große Bewegung, Carabinieri. Ich sage ihm, ich wisse es nicht, das sei
       wohl irgendeine Kontrolle, aber ein paar Minuten später kam die
       Bestätigung, dass wir ihn gefasst hatten. Es gab einen, wie ich finde,
       berechtigten [1][Moment der Genugtuung] für alle Anwesenden. Aber dann
       wurden wir vernünftig. Wir waren daran interessiert, ihn zu fassen, wollten
       aber auch so viele Informationen wie möglich bekommen, und so begannen die
       Durchsuchungen, wir identifizierten das Haus, in dem er sich versteckt
       hatte, und so weiter.
       
       Wie haben die Menschen während und nach der Aktion reagiert? 
       
       Es gab ein wenig Unmut, weil Menschen nicht in die Klinik kamen
       beziehungsweise nicht rauskonnten. Aber es gab keine großen Proteste. Und
       das ist ein wichtiger Fakt für Palermo: Das Bild von ganz normalen
       Menschen, [2][die den Carabinieri applaudieren]. Das zeigt, dass die
       einfachen Leute nicht mehr neutral sind, sondern auf der Seite des Staates
       stehen. Das ist ein positiver Indikator für das zivile Wachstum Palermos.
       
       Wie hat sich die Politik verhalten? 
       
       Die Politik hat die Festnahme für sich ausgenutzt. Das kann sie auch ruhig
       tun. Es kommt auf die Perspektive an. Wenn das Ganze als Sieg einer
       politischen Partei gesehen wird, derjenigen, die gerade regiert hat, dann
       ist das falsch. Wenn sie aber als Sieg des ganzen Landes angesehen wird,
       das geschlossen gegen die Mafia gekämpft hat, dann ist es eine gute Sache.
       
       Und die Reaktionen in der Gesellschaft? 
       
       Die kulturellen Räume – nennen wir sie mal so – in diesem Land haben zehn
       Minuten nach der Festnahme angefangen, darüber nachzudenken, warum er
       gefasst wurde, warum das nicht früher gelungen ist. In den wenigen
       öffentlichen Erklärungen, die ich abgegeben habe, habe ich diese Leute
       Verschwörungstheoretiker genannt. Denn für sie zählt nicht, was real
       passiert, sondern was sie darüber denken. Man kann nicht eine Stunde vor
       der Festnahme sagen, dass „der Staat Messina Denaro seit zehn Jahren
       beschützt“, und eine Stunde später: „Wer weiß, warum er festgenommen wurde“
       – ich zitiere hier den Experten Nando dalla Chiesa.
       
       Aber die Frage liegt ja nahe: Wie kommt es, dass der Staat Messina Denaro
       nicht früher gefasst hat? 
       
       Eine einfache Antwort darauf kann ich nicht geben. Meine Aufgabe ist es,
       die Personen zu finden, die einen konkreten Beitrag zu diesem Untertauchen
       geleistet haben. Neun von ihnen wurden bereits identifiziert und vor
       Gericht gestellt, die letzte Verurteilung war gerade am vergangenen
       Freitag. Dann gibt es natürlich Dinge, die ich nicht sagen kann. Aber fest
       steht, dass Messina Denaro davon profitierte, dass er sich in dem Gebiet,
       wo er sich befand, auf die Leute verlassen konnte.
       
       In Campobello di Mazara in der Provinz Trapani, nahe seinem Geburtsort.
       
       Genau. Er lebte in einem Klima, in dem viele Leute wussten, wer er war, und
       alle so taten, als wüssten sie es nicht. Zudem kann man davon ausgehen,
       dass es in den staatlichen Institutionen korrumpierte Elemente gab. Aber im
       Lauf von 30 Jahren sind die vermutlich bereits ausgeschieden. Was aber das
       Schlimmste ist: Messina Denaro lebte nicht nur im Untergrund, sondern er
       war jemand, der aus diesem Untergrund heraus bis zum Schluss an der Spitze
       der Cosa Nostra stand. Die Organisation bot ihm ein Schutznetz,
       medizinische Versorgung, Reisen und Urlaube. Es gab regelmäßige Treffen,
       bei denen viele Mafiageschäfte besprochen wurden, insbesondere im
       Zusammenhang mit Ausschreibungen in der Baubranche.
       
       Er war kein passiver Flüchtling? 
       
       Nein, ganz und gar nicht. Er war sehr aktiv.
       
       Was ist die Cosa Nostra heute? 
       
       Die Cosa Nostra ist sicherlich eine kriminelle Vereinigung. Denn man muss
       einen vagen Begriff von Mafia von einer organisierten kriminellen Struktur
       unterscheiden. Das ist es, was uns Giovanni Falcone gelehrt hat: Wenn alles
       Mafia ist, ist nichts Mafia. Die Cosa Nostra hat ihre Kräfte immer jenem
       Teil der Gesellschaft zur Verfügung gestellt, der die Illegalität den
       Regeln des Rechtsstaates vorgezogen hat: [3][der mafiösen Bourgeoisie.]
       Charakteristisch für die Cosa Nostra sind die Kommunikationskanäle zwischen
       der Mafiaorganisation einerseits und einem wichtigen Teil der
       politisch-administrativen Klasse in Sizilien andererseits, insbesondere in
       Palermo. Dieser Austausch hat es der Organisation ermöglicht, sich zu einem
       politischen Player zu entwickeln. Dank der Arbeit des Staates befindet sich
       die Cosa Nostra in einem Moment der Schwäche, es gibt keine strategische
       Ausrichtung mehr. Die Regeln, die es den Mafiosi erlauben, Mafiosi zu sein,
       bleiben jedoch bestehen, derzeit auf niedrigem Niveau. Das Thema, an dem
       sie arbeiten – und wir entsprechend auch –, ist, dass sie, um wieder stark
       zu werden, Geld brauchen. Und das haben sie nicht, relativ gesehen
       natürlich, denn die Beschlagnahmung ihrer Vermögenswerte der vergangenen 30
       Jahre war sehr wichtig. Wie kommen sie also illegal und schnell zu viel
       Geld? Mit Drogenhandel. Und in der Tat sehen wir derzeit eine ganze Reihe
       von neuen Geschäftsbeziehungen, insbesondere mit der kalabrischen Mafia
       ’Ndrangheta.
       
       Wie gefährlich ist die Cosa Nostra? 
       
       Die Cosa Nostra konspiriert und korrumpiert, aber wir dürfen nie vergessen:
       Wenn die Korruption nicht funktioniert, ist die militärische Macht immer
       der zentrale Punkt, mit dem man rechnen muss. Die Mafia funktioniert nicht
       ohne Maschinenpistolen in Reserve. Das ist ihr Wesen, sonst macht sie keine
       Geschäfte und zählt nichts. Die Mafia ist immer die Mafia.
       
       Wie blicken Sie in die Zukunft? 
       
       Derzeit ist das große Risiko, dass ein Teil der erwähnten [4][mafiösen
       Bourgeoisie,] der immer mit der Cosa Nostra in Verbindung war, weiter mit
       ihr Geschäfte machen will – ohne vielleicht zu verstehen, wie schwach sie
       geworden ist. Aber die Cosa Nostra ist ein elastisches Gebilde. Und genau
       dieser offene Kanal ist einer der Gründe, warum sie wieder stark werden
       kann. Unser Hauptthema bei den Ermittlungen ist deswegen nicht das aktuelle
       Angebot der Mafia, sondern es ist die Nachfrage nach ihren
       Dienstleistungen.
       
       16 Jan 2024
       
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