# taz.de -- Misslungene Frisuren und andere Probleme: Vom Ungenügen, mittelmäßig zu sein
       
       > Wenn selbst der Ethikrat an der eigenen Unzulänglichkeit verzweifelt,
       > wird es schwierig. Wer soll einem dann den Weg aus der Misere weisen?
       
 (IMG) Bild: Auf dem Friseurstuhl wächst die Verzweiflung
       
       Als es Frühling wurde, fiel mir auf, wie lange ich den Ethikrat nicht mehr
       gesehen hatte. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer
       Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Ich
       vermisste ihn, und da er sein Büro aufgegeben hatte, begann ich auf gut
       Glück nach ihm zu suchen. Aber der Rat blieb verschwunden, bis ich eines
       Tages an einem Friseurladen vorbeiging, der lange leer gestanden hatte. Im
       Fenster hing ein schiefes Pappschild: „Schöne Schnitte von philosophischer
       Hand“ stand darauf in verwischter Schrift.
       
       Drinnen war es dämmrig, und erst allmählich erkannte ich den Ethikrat.
       Eines der Ratsmitglieder saß auf einem riesigen thronartigen Friseurstuhl,
       das andere Mitglied rührte Farbe in einer Schale an, und der
       Ratsvorsitzende stand mit einem Trimmgerät neben dem Friseurstuhl. „Guten
       Tag“, sagte ich, „ich habe Sie vermisst.“ „Danke“, sagte der
       Ratsvorsitzende, „wir versuchen derzeit, unsere Angelegenheiten zu ordnen.“
       Er klang ungewohnt mutlos.
       
       Ich kam näher und betrachtete das Haar des Ratsmitglieds auf dem
       Friseurstuhl, das aussah, als hätten Motten darin gearbeitet. „Können Sie
       es erkennen?“, fragte der Ratsvorsitzende. „Nicht sofort“, sagte ich
       zögernd. „Es ist das Unendlichkeitszeichen“, sagte der Vorsitzende trübe.
       „Niemand erkennt es.“ Er wies auf ein Schild neben dem Friseurstuhl: „Nur
       hier: Philosophische Symbole gegen geringen Aufpreis“. Das Ratsmitglied
       glitt unauffällig vom Friseurstuhl und verschwand im Hinterzimmer.
       
       „Ist dies eine ästhetische Feldforschung?“, fragte ich, denn der Rat
       verfolgte in der Regel einen praktischen Zugang zur Philosophie. „Nein“,
       sagte der Ratsvorsitzende und begann die Haare am Boden zusammenzufegen.
       „Wir beenden unsere philosophische Laufbahn.“ „Wie bitte“, rief ich, „das
       geht nicht. Ich brauche doch Ihre Hinweise.“ „Selbstverständlich geht es,
       Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende erbittert. „Wir sind es leid, dass
       unsere Antworten bestenfalls vorläufig sind. Wir sind es leid, dass wir
       unsere Arbeit nicht anfassen können, keine Mauer, kein Baum, kein
       Garnichts.“
       
       Er hielt inne. „Wir sind es leid, [1][dass niemand Epiktet kennt]“, sagte
       eines der Ratsmitglieder, das in der Regel schwieg. „Wir mussten erkennen,
       dass wir nie den [2][Rang eines Zenon] erreichen werden“, sagte der
       Vorsitzende. „Aber auch unsere Haarschnitte sind bestenfalls mittelmäßig.“
       Der Rat stellte sich wie ein griechischer Chor vor mir auf. „Was raten Sie
       uns?“, fragte der Vorsitzende. „In dieser schwierigen Lage“, sagten die
       beiden anderen Ratsmitglieder.
       
       ## Die Hoffnung wankt
       
       Ich war ratlos. Ich war Expertin im Ungenügen an meiner eigenen
       Mittelmäßigkeit, mehr nicht. Der Ethikrat war meine Zuflucht, und ihn
       bedürftig zu sehen, bereitete mir Unbehagen. Wenn er wankte, wankte die
       Hoffnung, irgendwo in den Falten der Antike gäbe es Lösungen auch für so
       murksige Fälle wie mich. Der Rat sah mich fragend an. „Nun“, sagte ich
       zögernd und zog mein Epiktet-Exemplar aus der Tasche. „Epiktet schreibt“,
       ich blätterte, „bei einem jeden Vorkommnis halte Einkehr in dich selbst,
       und bestrebe dich, zu untersuchen, welche Möglichkeiten du hast, mit ihm
       fertig zu werden.“
       
       Der Rat schwieg. Ihm Epiktet vorzulesen hieß, Eulen nach Athen zu tragen,
       dachte ich beschämt. Ich näherte mich dem Friseurstuhl. „Wie wäre es, wenn
       Sie sich bei den philosophischen Symbolen auf einfache Motive aus dem
       Bereich der Existenzquantoren konzentrierten“, sagte ich vorsichtig. „Zur
       Not könnte ich auch Ihr Modell sein.“ „Wir danken Ihnen, Frau Gräff“, sagte
       der Ratsvorsitzende. „Ihre Hilfe bedeutet uns viel.“ Er griff nach dem
       Trimmer. Mir schauderte.
       
       12 Mar 2024
       
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